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       # taz.de -- CDU-Abgeordneter über die Bremer Psychiatrie: „Davon wird doch kein Mensch gesund“
       
       > Rainer Bensch, gesundheitspolitischer Sprecher der Bremer CDU, über
       > zeitgemäße psychiatrische Behandlung, Psychiatrien als Geldquelle und den
       > Fall Melissa B.
       
   IMG Bild: Das Klinikum Bremen-Ost steht auch wegen häufiger Zwangsmaßnahmen in der Kritik.
       
       taz: Herr Bensch, die 20-Jährige Melissa B. nahm sich das Leben – direkt
       nach ihrer Entlassung aus dem Klinikum Bremen-Ost (KBO). Eine
       Verfassungsbeschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens ist anhängig,
       die Mutter klagt gegen die Klinik, weil dort zu wenig Fachärzte gewesen
       seien. Wie kann so etwas passieren? 
       
       Rainer Bensch: Mir ist der Atem weg geblieben, als ich das erste Mal mit
       dem Fall konfrontiert war. Ich habe Kontakt zur Mutter von Melissa B. und
       Akten und Schriftstücke einsehen können. Es ist sehr fragwürdig, ob die
       Menschen in der Psychiatrie des KBO tatsächlich rund um die Uhr angemessen
       durch Fachärzte versorgt werden. Es gab viele alarmierende Vorfälle und
       Beschwerden. Unsere spontanen Kontrollen mit der Besuchskommission fielen
       auch nicht gerade positiv aus, deswegen habe ich nun eine parlamentarische
       Anfrage gestellt.
       
       Die hat ergeben, dass den kommunalen Psychiatrien der Gesundheit Nord
       (Geno) zehn bis fünf Prozent Fachärzte fehlen. Was bedeutet das? 
       
       Natürlich ist es wünschenswert, wenn die Facharztquote bei 100 Prozent oder
       sogar knapp darüber liegt, um alle Eventualitäten abzudecken. Das muss das
       Ziel sein, aber es ist nicht alles: Wichtig ist insbesondere die
       Behandlungsqualität.
       
       Und die ist nicht schlecht? 
       
       Sie ist sehr unterschiedlich. Wenn man alle psychiatrischen Kliniken und
       ambulante Träger des Landes Bremen betrachtet, hat man eine gute bis sehr
       gute psychiatrische Versorgung. Zwar fehlt im ärztlichen Bereich des
       Psychiatrischen Behandlungszentrums im Klinikum Bremen-Nord (KBN)
       prozentual am meisten Personal, aber dort läuft es dennoch gut. Das ergeben
       auch die Zahlen und Berichte: Im KBN gibt es einen sehr niedrigen
       Medikamentenverbrauch und die Psychiatrie arbeitet trotz einer zu niedrigen
       Facharztquote richtig gut, weil sie auf modernen Konzepten fußt. Offenheit
       und Vertrautheit spielen eine große Rolle.
       
       Warum gibt es in Bremen dann im Verhältnis bundesweit die meisten
       Zwangsmaßnahmen? 
       
       Das liegt daran, dass es im Klinikum-Ost, Bremens größter Psychiatrie,
       genau umgekehrt als im KBN ist: Dort gibt es einen hohen
       Medikamentenverbrauch, viele Zwangsmaßnahmen und Beschwerden sowie mediale
       Berichterstattung über Missstände und Proteste von Patientenfürsprechern –
       obwohl mit der Geno der selbe Träger zuständig ist.
       
       Wie kann das sein? 
       
       Es liegt an den unterschiedlichen Konzepten. Im KBO findet offenkundig
       keine moderne Behandlung statt.
       
       Wie sieht die idealtypisch aus? 
       
       Zeitgemäß ist eine ambulante und lebensnahe Versorgung wie das Home
       Treatment: Wenn ein Patient aufgrund einer Lebenskrise stationär
       psychiatrisch versorgt wird, soll er nicht lange in der Klinik bleiben. Man
       will ihn möglichst schnell ambulant im alltäglichen Umfeld versorgen. Im
       Idealfall sind die gleichen Personen wie in der Klinik für die ambulante
       Betreuung verantwortlich, sodass die Fachärzte auch draußen in der WG oder
       der Familie am Ball sind und im Notfall helfen. In Krisen kann der Patient
       sogar am Arbeitsplatz begleitet werden oder notfalls auch noch mal für ein
       paar Tage in die Klinik kommen. Die Basis ist ein vertrauensvolles,
       patientennahes Verhältnis. Stationäre und ambulante Behandlungen laufen
       nicht parallel, sondern greifen ineinander.
       
       Warum weiß man das nicht im KBO? 
       
       Das ist nicht erklärbar. Ich erwarte, dass der noch relativ neu angestellte
       Direktor der psychosozialen Medizin, Professor Jens Reimer, dafür sorgt,
       dass es auch im KBO rund läuft. Bislang gab es in der Geno keine
       übergeordnete Leitung. Inzwischen hat die Geno auch nach öffentlichem Druck
       eingestanden, dass nicht alles rund läuft.
       
       Immer wieder gab es den Vorwurf von Quersubventionen. Es soll an der
       Tagesordnung gewesen sein, dass vermeintlich wichtigere Bereiche von
       Einsparungen in der Psychiatrie bezahlt worden seien. 
       
       Das es solche Quersubventionen im KBO gegeben hat, ist offenkundig. Es war
       systematisch zu wenig Personal auf Station, wie auch spontane Kontrollen
       ergaben. Wie mit Geld der Krankenkassen umgegangen wurde, ist Kern des
       Problems. Es ist ein offenes Geheimnis, dass das Krankenhaus von
       Einsparungen in der Psychiatrie profitiert hat: Melissa B. etwa wurde
       während der ersten Behandlungswoche ihres 30-tägigen Klinikaufenthalts
       nicht einmal von einem richtigen Facharzt behandelt, vielmehr wurde sie von
       einer Diplom-Psychologin behandelt. Mutmaßlich falsche Medikation und keine
       anständige Versorgung waren die Folge.
       
       Die Bürgerschaft versucht seit 2013 die Zustände im KBO zu verbessern,
       zuletzt reagierte auch die Geno mit einem Aktionsplan. Wie ist Ihr
       gegenwärtiger Eindruck? 
       
       Im letzten halben, dreiviertel Jahr sind die Zwangsmaßnahmen deutlich
       zurück gegangen. Das ist sehr positiv: Es gibt momentan keine großen
       Ausreißer oder Alarmstimmung. Der hospitale Charakter der Station 63 wurde
       durch kleine Baumaßnahmen und einen Anstrich verbessert, es gab
       Schulungsmaßnahmen – ich habe mich selbst über die Fortschritte gewundert.
       Auch scharfe Kritiker wie der psychiatrieerfahrene Patientenfürsprecher
       Detlef Tintelott und andere bestätigen Verbesserungen.
       
       Und die Quersubventionen ? 
       
       Auch darauf hat der Gesetzgeber inzwischen reagiert: Durch da neue
       Transparenz-Gesetz PsychVVG lässt sich nachvollziehen, ob das
       Krankenkassen-Geld für die Psychiatrie auch wirklich dort eingesetzt wurde.
       Wenn die Kasse Quersubventionen entdeckt, kann sie das Geld jetzt
       zurückfordern.
       
       Was passiert, wenn eine Klinikleitung dennnoch trickst? 
       
       Ich kann nur davor warnen, weil das Geld nun zweckgebunden ist. Für die
       Geno ist es nicht zuletzt eine Image-Frage: Wenn es dort in der Psychiatrie
       keine spürbare Fortentwicklung zur ambulanten Versorgung gibt, muss der
       Senat als Eigentümer der Geno mit Steuerungsmaßnahmen eingreifen. Der
       Mensch muss so schnell wie möglich in sein Lebensumfeld zurück. Es braucht
       mehr als: „Du kommst jetzt ins Klinikum Bremen-Ost, dieses Zimmer, diese
       Medikamente, ein bisschen Therapie. Fertig.“ Davon wird doch kein Mensch
       gesund.
       
       26 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gareth Joswig
       
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