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       # taz.de -- Türkischer Autor im taz-Café: Von Istanbul nach Berlin
       
       > Viele junge Menschen fliehen aus einer immer undemokratischer regierten
       > Türkei – auch nach Berlin. Barbaros Altuǧ hat ihre Geschichte
       > aufgeschrieben.
       
   IMG Bild: Unvergessen auch in Berlin: die Gezipark-Proteste in Istanbul 2013.
       
       taz: Herr Altuğ, Ihr jetzt auf Deutsch erschienener Roman „Es geht uns hier
       gut“ handelt von drei jungen Menschen, die nach den Gezi-Protesten 2013
       beschließen, die Türkei zu verlassen, und nach Berlin ziehen. Gezi war ein
       Moment der Hoffnung für mehr Demokratie. Wieso handelt Ihre Novelle nicht
       vom Widerstand, sondern von Migration? 
       
       Ich habe bei den Gezi-Protesten fast täglich mitdemonstriert. Gegen Ende
       habe ich vor allem Erschöpfung beobachtet. Die jungen Leute begannen ihre
       Hoffnungen zu verlieren, weil sie begriffen, dass die Türkei sich nicht
       mehr ändern lassen würde – und sie selbst in diesem Land bald nicht mehr
       willkommen sein würden. Es gab keine politische Bewegung, die ihre Anliegen
       unterstützte. Wenn es ein Buch über Gezi geben musste, dann eins, das vom
       Weggang dieser Menschen berichtet.
       
       Tatsächlich verlassen derzeit viele Menschen die Türkei. Seit den Protesten
       gegen die Rodung des Geziparks im Istanbuler Stadtzentrum ist die
       politische Situation immer schwieriger geworden. Warum ist gerade Berlin so
       attraktiv für junge TürkInnen? 
       
       Diese Stadt ist offen für junge, gebildete und kreative Menschen. Wenn Sie
       eine erfolgreiche Vergangenheit haben oder eine aussichtsreiche Zukunft,
       gibt Ihnen Berlin zumindest eine Chance. Zudem existiert eine große
       türkeistämmige Community und Sie können hier mit Türkisch oder Englisch
       auskommen. Außerdem werden in Berlin türkeistämmige Menschen noch am
       wenigsten diskriminiert. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.
       
       Sind Sie auch Neu-Berliner? 
       
       Ich habe eine Zeit lang in Berlin gelebt, um an dem Buch zu arbeiten. Ich
       hatte eine Wohnung in der Torstraße.
       
       … und haben dort Yasemin, Ali und Eren aus Ihrer Geschichte getroffen? 
       
       Es gab dort ein kleines Restaurant, in dem ich wenige Tage nach meiner
       Ankunft zu Mittag aß, als drei junge Leute hereinkamen, zwei Männer und
       eine Frau. Sie hatten noch ihre Koffer dabei und unterhielten sich auf
       Türkisch darüber, ob sie es schaffen würden, in Berlin einen Job zu
       bekommen und ob ihr Geld reichen werde. Meine Geschichte ist inspiriert von
       dieser Begegnung, vor allem Yasemins Figur.
       
       Schon früher haben Menschen die Türkei verlassen, etwa nach dem
       Militärputsch 1980. Was ist heute anders? 
       
       Die Menschen, die gerade die Türkei verlassen, könnten das Land in eine
       bessere Zukunft führen. Aber sie wollen nicht zurück. Ihre Freunde sitzen
       im Knast oder wurden ermordet, ihre Familien sind zerrüttet. Obwohl diese
       jungen Leute qualifiziert sind und ein finanziell abgesichertes Leben in
       der Türkei haben könnten, ziehen sie es vor, zu fünft in einem
       40-Quadratmeter-Zimmer im Exil zu wohnen, weil sie nicht in einem System
       leben wollen, das keinerlei Kritik duldet. Geld ist nicht alles. Sie wollen
       Freiheit. Und es gibt keine Hoffnung mehr auf Freiheit in der Türkei.
       
       Dennoch gibt es demokratische Bewegungen in der Türkei. Wie kann man diese
       von außen unterstützen? 
       
       Die Türkei kann sich nur durch die Menschen verändern, die geblieben sind.
       Die Exilanten können aber durch kreatives Schaffen ihren Beitrag leisten:
       Bücher schreiben, Musik oder Filme produzieren und auf diese Weise Hoffnung
       geben. Die Türkei ist kein reiches Land und hat keine eigenen Ressourcen.
       Die EU ist ihr wichtigster Handelspartner. Würden die
       Wirtschaftsbeziehungen abgebrochen, müsste die Türkei ihre Politik ändern.
       Hätte die EU die Türkei nach Gezi sanktioniert, wäre sie heute vielleicht
       ein anderes Land. Und viele Menschen wären vielleicht dort geblieben.
       
       Seit mehr als 50 Jahren bereits migrieren Menschen aus der Türkei nach
       Deutschland. Wie ist das Verhältnis zwischen alteingesessenen Deutschtürken
       und den jetzigen Newcomern? 
       
       Vor 55 Jahren sind die Türken aus finanziellen Gründen ausgewandert. Heute
       lebt bereits die dritte und vierte Generation Türkeistämmiger in Berlin.
       Sie sind inzwischen Deutsche, und das ist gut. Allerdings gibt es
       Parallelen zwischen den jüngeren türkeistämmigen Deutschen und den
       gleichaltrigen Newcomern. Sie teilen Herkunft und Kultur. Sie haben
       dieselben Bücher gelesen oder Filme gesehen. Wenn sie dasselbe Lied hören,
       dann haben sie vielleicht dasselbe Feeling. Zweifelsohne wissen sie alle,
       wer die Sängerin Ajda Pekkan ist. Es gibt also gemeinsame Nenner. Daher ist
       eine Annäherung dieser Gruppen eher möglich als eine der älteren
       Generationen. Mögen sie zusammen glücklich werden!
       
       28 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Canset Icpinar
       
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