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       # taz.de -- Serie „Alte Meister“: Die Kreativität der Frauen
       
       > Élisabeth Vigée-Lebrun war Porträtmalerin, als es kaum malende Frauen
       > gab. In der Gemäldegalerie Berlin ist nun ihr „Genius des Ruhmes“ zu
       > sehen.
       
   IMG Bild: Élisabeth Vigée-Lebrun: „Prinz Heinrich Lubomirski als Genius des Ruhmes“, 1789
       
       Fast am Ende der chronologisch gehängten Ausstellung „In neuem Licht“ in
       der Gemäldegalerie sticht zwischen Werken von Rembrandt, Rubens,
       Jean-Antoine Watteau und Joshua Reynolds ein Bild mit strahlendem Reiz
       hervor. Es zeigt einen geflügelten Jungen in einer klassischen Pose, die an
       die kniende Venus erinnert. In einer Hand hält er einen Lorbeerkranz, das
       Symbol für Unschuld, Liebe und Ruhm. Eine rote Stola fällt über seine
       kräftig und weich aussehenden Beine. Sie verhüllt kaum den nackten Körper.
       Das kindlich engelhafte Gesicht ist zur Seite gewandt.
       
       Die hölzerne Oberfläche des Bilds lässt dieses Ölgemälde mehr als andere
       strahlen und beinah wie ein Hochglanzfoto erscheinen. Gemalt wurde es von
       Élisabeth Vigée-Lebrun im Sommer 1789 in Paris. Das porträtierte Kind,
       Prinz Henryk Lubomirski (1777–1850), gehörte der Entourage einer Prinzessin
       an, die wegen revolutionärer Ereignisse aus Polen geflohen war. Die
       kinderlose Frau hatte das hübsche Kind einer entfernten Verwandten
       entführt, um es als Erben einzusetzen.
       
       Ein Detail vor dem graublauen Hintergrund stört die Harmonie – ein Köcher
       mit Pfeilen zu Füßen des Kinds könnte auf die Ereignisse hindeuten, die
       sich seit dem Sommer des Jahres 1789 zur Revolution entfaltet hatten. Sie
       zwangen die findige Malerin, wegen ihrer Verbindung zur französischen
       Königin ihr Heimatland zusammen mit ihrer Tochter zu verlassen. Sie musste
       ihre außergewöhnliche Karriere im Exil weiterverfolgen.
       
       Élisabeth Vigée-Lebrun reiste nach Italien und arbeitete fortan in Florenz,
       Neapel, Wien, St. Petersburg und Berlin, wo sie unter anderem Mitglieder
       königlicher Familien malte, bevor sie nach Frankreich zurückkehrte.
       Vigée-Lebrun war 1755 geboren worden und starb 1842. Die Tochter eines
       Malers und einer Friseurin war als Autodidaktin gegen die Normen ihrer Zeit
       als Künstlerin erfolgreich.
       
       ## Frauen malen keine Akte
       
       Der Vater hatte früh das Talent der Tochter erkannt, doch er starb, als sie
       zwölf war. Wie die vor Kurzem verstorbene Kunsthistorikern Linda Nochlin in
       ihrem feministischen Klassiker „Why Have There Been No Great Women
       Artists?“ zeigte, hatten alle uns bekannten weiblichen Künstlerinnen vor
       dem 20. Jahrhundert einen Maler als Vater. Vigée-Lebrun erlernte ihre Kunst
       durch das Betrachten und Kopieren von Kunstwerken. Nach dem Tod des Vaters
       unterstützte sie damit ihre Mutter und ihren Bruder.
       
       Kurz nachdem sie der französischen Königin Marie Antoinette begegnet war,
       wurde sie deren Hofmalerin und damit die erste Frau, die in diesen Rang auf
       königlicher Ebene erhoben wurde. Sie galt als eine der führenden
       Porträtmaler des Ancien Régime. Mit 28 wurde sie als eine von vier Frauen
       in die Académie Royale de Peinture et de Sculpture aufgenommen.
       
       ## Verboten, Akte zu malen
       
       Hinter dem mythologischen Thema ihres Bildes, das den Genius des Ruhms
       zeigt, wird in der Androgynität des nackten Jungen doch eine gewisse
       erotische Intimität sichtbar, die von den warmen Tönen noch verstärkt wird.
       Zu dieser Zeit war es Frauen nicht erlaubt, in die Lehre zu gehen. Und es
       war ihnen verboten, Akte zu malen. Man kann erkennen, dass die Grenzen
       zwischen dem Porträt des realen Jungen und seiner Rolle als Genius von der
       Malerin leicht offen gelassen wurden, was beim genaueren Hinsehen ein
       leises Unbehagen erzeugt.
       
       Lebrun war sich des erotischen Potenzials der Beziehungen des Blicks wohl
       bewusst. In ihren Erinnerungen bekannte sie, mit ihren männlichen Modellen
       geflirtet zu haben: „Sobald ich aber bemerkte, dass sie mir schöne Augen zu
       machen versuchten, malte ich sie so, dass sie in eine andere Richtung als
       meine schauen mussten. Wenn sie nur die leiseste Bewegung mit der Pupille
       machten, sagte ich: ‚Ich mache jetzt die Augen.‘ “
       
       ## Die Perspektive der Frau
       
       Darren Aronofskys neuer Film „Mother!“ erzählt die Geschichte eines
       mittelalten Schriftstellers und seiner jüngeren Partnerin. Sie renoviert
       das abgelegene Haus der beiden. Während ihr Mann an einer Schreibblockade
       leidet, versucht sie mit Kontemplation und Grazie ein Paradies zu schaffen.
       
       Im ersten Teil des Films wird die Idylle von einem Fan des Autors gestört.
       Während die Frau den Bewunderer als Einbruch der Welt in die Zweisamkeit
       empfindet, freut sich der Mann über die Anerkennung. Im zweiten Teil ist
       die Frau schwanger und der Mann hat ein neues Werk geschaffen. Gerade als
       die Wehen einsetzen, versammelt sich eine große Menge von Fans vor dem
       Haus. Der Mann bittet sie herein, worauf die Situation mehr und mehr außer
       Kontrolle gerät. Der Film nimmt dabei ausschließlich die Perspektive der
       Frau ein.
       
       Aronofsky hat „Mother!“ als Allegorie auf männliche und weibliche Formen
       von Kreativität angelegt, die durch die Namenlosigkeit der Protagonisten
       noch betont wird. Der gottgleiche Schriftsteller verkörpert ein
       Schöpfungsprinzip, dem eine seelenlose Leere zugrunde liegt: Ein kreativer
       Trieb, der sich aus dem bodenlosen Verlangen nach öffentlicher Anerkennung
       ableitet, spiegelt sich in einer Form von Verehrung, die ins Monströse
       umschlägt. Die Frau dagegen spendet Leben und Erlösung, erst dem Haus, dann
       dem Kind. Er ist kreativ, sie ist fruchtbar. Er ist blind, sie sieht. Ihm
       steht etwas zu, sie ist hingebungsvoll.
       
       Gibt es einen Unterschied zwischen weiblicher und männlicher Kreativität?
       Und wenn ja, wie ist er zu erklären? In ihrem bereits erwähnten, 1971
       erschienenen Standardwerk „Why Have There Been No Great Women Artists?“
       hat Linda Nochlin die Grundlage für eine feministische Methodologie
       innerhalb der Kunstgeschichte geschaffen. Der Witz an ihrem Werk und seinem
       Titel war, dass Nochlin eine Fülle von historischen und soziologischen
       Argumenten für ihre These vorbrachte, sodass schon diese Frage falsch
       gestellt ist.
       
       ## Der Mythos des Genies
       
       Nochlin erkannte an, dass es tatsächlich keine weiblichen Michelangelo oder
       Rembrandt, Picasso oder Matisse, nicht einmal de Kooning oder Warhol
       gegeben hat. Der „Fehler“ liege aber nicht in der Genetik des Frauseins,
       sondern sei strukturell in der Erziehung von Frauen und den
       Kunstinstitutionen angelegt. Kunst sei kein reines Mittel, sich selbst
       auszudrücken, sondern etwas, das eine konsistente Formensprache und
       Konventionen voraussetze. Diese aber müssten durch Lehrer vermittelt oder
       durch individuelles Arbeiten erlernt werden.
       
       Beides aber würde Frauen systematisch versagt. Darüber hinaus kritisierte
       Nochlin den Mythos des angeborenen Genies als mysteriöser Begabung, die
       sich im „großen Künstler“ manifestiere. Ebenjene göttergleiche Figur, die
       in Vigée-Lebruns Porträt zum Ausdruck kommt und deren destruktiver, eitler
       Seite Aronofsky seinen Film gewidmet hat.
       
       ## Sie verdiente, er verspielte
       
       Das Porträt des jungen Lubomirski befindet sich seit 1974 in der Sammlung
       der Gemäldegalerie. Die polnische Auftraggeberin bezahlte dafür 12.000
       Franc. Diese Summe musste Vigée-Lebrun, die für ihre hohen Preise bekannt
       war und ihren eigenen Lebensunterhalt damit bestritt, allerdings ihrem
       Ehemann übergeben. Jean Baptiste Pierre Lebrun war ein Pariser
       Kunsthändler, Kritiker – und chronischer Spieler.
       
       Die Porträtmalerei war im 18. Jahrhundert kein prestigeträchtiges Genre
       mehr. Historienmaler waren die Stars der Zeit. Vigée-Lebrun malte
       Porträts, weil sie ihrem Talent folgte oder weil sie pragmatisch war,
       vielleicht auch beides. Die Kunst ermöglichte ihr den sozialen Aufstieg.
       Zugleich aber war sie eine Form der Dienstleistung, für die weiblich
       konnotierte Fähigkeiten wie Empathie und soziale Kompetenz nötig waren.
       
       ## Die „maskulinen“ Attribute des Kreativen
       
       Zwei Selbstporträts der Künstlerin zeigen, dass sie selbst sich aber in
       eine Reihe mit großen männlichen Malern wie Rubens und Raffael stellte und
       diese indirekt sogar herausforderte. Die feministische
       Kunstgeschichtsschreibung nach Nochlin hat zu Recht betont, dass das
       Institutionelle über dem Individuellen steht.
       
       Die Frage, die heute zu selten gestellt wird, ist nicht, ob Frauen Kunst
       machen können oder nicht. Sondern, ob Frauen kreativ sein können, ohne die
       überkommenen „maskulinen“ Attribute des Kreativen anzunehmen. Kann es eine
       Künstlerin geben, deren Werk die Kunst auf ähnlich radikale Weise wie
       Velasquez, Duchamp oder Warhol neu definiert? Kann weibliche Kunst mehr
       sein als nur eine Erweiterung der Sensivität, mehr als ein spezifisches
       Füllen bestehender Formen?
       
       ## Das absolut Andere
       
       Es fällt schwer, einen genuin „weiblichen Stil“ im Werk von so
       unterschiedlichen Künstlerinnen wie Élisabeth Vigée-Lebrun, Angelika
       Kauffmann, Käthe Kollwitz, Georgia O’Keeffe, Helen Frankenthaler, Bridget
       Riley, Louise Bourgeois oder Mona Hatoum zu entdecken. Bedeutet das aber,
       dass weibliche Künstlerinnen nichts gemein haben? Wenn die Kunst als Ersatz
       für das Leben verstanden werden kann, als Ausfluss einer Kreativität, die
       ihrem Wesen nach männlich ist, welche Kunst kann dann unter dem Signum der
       Fruchtbarkeit gemacht werden?
       
       Diese Fragen nicht zu stellen kommt der Verleugnung eines Potenzials einer
       Dimension weiblicher Handlungen gleich, die der gegebenen Ökonomie als
       absolut Anderes gegenüberstehen.
       
       26 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
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