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       # taz.de -- Der Hausbesuch: Frau Kolbe und das vorsichtige Dorf
       
       > In München gründete sie den ersten Weltladen der Stadt. In Berlin zog sie
       > ihren Sohn mit vielen Daddys auf. Passt so eine wie sie auf die
       > Schwäbische Alb?
       
   IMG Bild: „In Bayern nennt man es Bänkeln“, sagt die in Rosenheim geborene Kolbe
       
       Ratshausen, ein 750-Einwohner-Dorf auf der schwäbischen Alb. Hier heißen
       die meisten Leute „Koch“ oder „Dannecker“, ihre Familien leben seit
       Jahrhunderten im Ort. Irmgard Kolbe hat einen fremden Nachnamen, sie ist
       zugezogen. Die Musikerin und Sozialarbeiterin macht vieles anders als die
       Alteingesessenen. Es sei ein „vorsichtiges Dorf“, sagt sie.
       
       Draußen: Die Beine übereinander geschlagen sitzt Irmgard Kolbe vor dem 300
       Jahre alten Bauernhaus mit Blick auf den Kirchturm („In Bayern nennt man
       das bänkeln“, sagt die gebürtige Rosenheimerin). Sie grüßt einen Mann, der
       Stroh aus ihrer Scheune auf einen Transporter lädt. Wo früher das Heulager
       war, veranstaltet Kolbe heute Partys und Konzerte.
       
       Drinnen: Im Eingang des Bauernhauses riecht es nach frischer Wäsche und
       Holzofen. Im Gang eine asiatische Tapete in türkis-lila, daneben ein mit
       Rosen-Servietten vollgekleisterter Stromkasten. Eine Katze räkelt sich
       unter der Garderobe. Links geht es ins Musikzimmer. Die Kuhlen in der Couch
       verraten, dass hier schon viele Leute saßen. Daneben: eine Gitarre, Regale
       voller CDs. Ein golden gerahmter Buddha thront über Engelsfiguren. Hier
       gibt Irmgard Kolbe Musikunterricht.
       
       Namen: Irmgard Kolbe, 53, schwarze Locken, eng anliegende Hose, sitzt in
       der Stube, und nippt an einem Rooibuschtee. Vor ihrer Ehe hieß sie Irmgard
       Himmler, verrät sie, aber das wüssten nur die wenigsten. Der Name hatte
       unschöne Folgen: Drei Tage U-Haft in Israel, eine Bombendrohung, auf Reisen
       zeigten ihr die Leute den Hitlergruß. „Ich hätte jeden geheiratet, nur für
       einen anderen Namen“, sagt sie lachend.
       
       Kindheit: Irmgard wächst in Rosenheim auf. Jeden Sonntag geht man in die
       Kirche, Mädchen tragen Röcke. „Ein Haus ohne Blumenkasten, unmöglich.“
       Heute hat sie selbst zwei davon, auf dem Fenstersims vor Häkelvorhängen.
       Der Vater kehrt sehbehindert und mit einem Trauma aus dem Krieg zurück. Er
       wird oft laut, trinkt. Irmgard ist die Mittlere von drei Geschwistern.
       „Wenn Vater aus der Kneipe heim kam, ließen wir unsere Mutter nicht mehr
       allein.“ Mit elf Jahren hat Irmgard das „Gitarrenproblem“, so nennt sie es.
       Fast manisch habe sie sich selbst Gitarrespielen beigebracht, ohne Noten,
       mit einem Kassettenrecorder, Beatles und einer Stoppuhr, um immer schneller
       zu werden.
       
       Große Pläne: Mit 19 zieht Irmgard Kolbe, damals noch Himmler, nach München.
       Neben dem Sozialpädagogikstudium gründet sie den ersten Weltladen Münchens,
       erzählt sie. Sie engagiert sich für den Umweltschutz. Außerdem nimmt sie
       Gesangsunterricht und lernt sieben Instrumente. Eigentlich will sie als
       Musicalsängerin Karriere machen. Doch mit 24 Jahren wird sie schwanger.
       
       Berlin: Jona nennt sie ihren ersten Sohn, ein jüdischer Name („Ich liebe
       jüdische Musik“). Im Gang hängt ein selbst gestaltetes Bild des Ältesten
       mit erhobenem Kinn in einem Adelsgewand. Mutter und Sohn ziehen nach
       Berlin, in eine Hausgemeinschaft mit 16 Parteien und einer Waschmaschine.
       Außerdem im Haus: viele Reisende, „Abgestürzte“ und Rastas („Jona hatte
       viele Daddys“). Sieben Jahre lang bleibt Irmgard mit ihrem Sohn in Berlin,
       bezieht Sozialhilfe, tanzt und singt im Jazzchor. Dann lernt sie Michael
       kennen. Er ist der Leiter der Berliner Gruppe der „Universellen Weißen
       Bruderschaft“, eine spirituelle Vereinigung, die heute etwa 150 deutsche
       Anhänger hat.
       
       Glauben: Die Bruderschaft ersetzt für Irmgard den katholischen Glauben, mit
       dem sie aufgewachsen war. Die Kirche habe ihr keine Antworten geben können,
       sagt sie. Immer wieder fährt die junge Familie nach Frankreich, wo die
       Lehre des bulgarischen Gurus Omraam Mikhaël Aïvanhovs gelehrt wird. Der
       Glaubensansatz ist ein Hybrid aus christlich-jüdischen Traditionen und
       Einflüssen von Rosenkreuzern, Anthroposophie und fernöstlichen Elementen.
       Dazu gehören Meditationen zu Sonnenaufgang, chorales Singen bulgarischer
       Lieder, das Leben in einer großen Gemeinschaft statt in der Kleinfamilie.
       Irmgard Kolbe und ihr Mann gründen ein eigenes Zentrum, in der Nähe des
       deutschen Vereinszentrums im schwäbischen Schörzingen. Im
       1.000-Einwohner-Ort auf der Schwäbischen Alb leben sie mit „Brüdern und
       Schwestern“ nach der Lehre der bulgarischen Gurus. Kolbe bekommt zwei
       weitere Kinder. Meditationen im Garten, laute Gesänge. Die Leute im Ort
       beschweren sich über die Gruppe.
       
       Tiefpunkt: Diese Zeit geht zu Ende, als Kolbes Mann Michael „beim
       Zigarettenholen“ verschwindet. Später habe sie erfahren, dass er mit der
       Babysitterin in die USA durchgebrannt sei, erzählt Kolbe. Fünf Jahre bleibt
       er verschwunden. Immer wieder liegt ein Geldbündel im Briefkasten.
       „Natürlich viel zu wenig. Ich weiß was absolute Armut ist.“ Irmgard Kolbe
       fängt an, als Musiklehrerin zu arbeiten. Die Geschichte ihres Exmannes ist
       „ein Riesending im Dorf“.
       
       Kehrtwende: Kolbe beschließt, mit den drei Kindern nach Ratshausen zu
       ziehen, ein Ort sieben Kilometer von Schörzingen entfernt. Der
       Bürgermeister bietet ihr ein altes Bauernhaus gleich neben der Kirche zur
       Miete an. Nach ihrer Ankunft schmeißen Kinder aus dem Ort die Scheiben ein.
       Den Kindern will sie keinen Vorwurf machen, sie ahmten nur das nach, was
       die Eltern sagten, glaubt sie. „Die redeten über uns wie heute über die
       Asyl-Kinder.“ Kolbe fängt als Bedienung im Gasthof Adler an, dem einzigen
       Lokal im Ort. Sie sei nun nicht mehr nur Objekt, sondern auch Subjekt des
       Dorfgesprächs gewesen, sagt sie. „Ich habe fast allen Kindern hier
       Flötespielen beigebracht.“ Ihre eigenen Kinder gehen auf die Waldorfschule
       ein paar Dörfer weiter.
       
       Sozialarbeit: Heute kümmert sich Irmgard Kolbe um die, die noch fremder
       sind als sie es je war. Als Sozialarbeiterin arbeitet sie acht Stunden
       täglich bei einem Träger mit „schwervermittelbaren Geflüchteten“. Auch nach
       Feierabend bringe sie „ihre Fluchtis“, wie sie sie nennt, zum Fußball,
       schreibe Überweisungen für Rechtsanwaltskosten, berate Frauen über
       Empfängnisverhütung, erzählt sie. An der Musikschule hat sie ihren neuen
       Partner Willy kennengelernt, einen Cajón-Lehrer. Er arbeitet inzwischen
       ebenfalls bei dem sozialen Träger, baut Trommeln mit den Geflüchteten.
       Nächstes Jahr wollen sie heiraten. „Wir fahren nach Berlin, machen was
       Verrücktes.“ Zusammen spielen sie auch in einer Band, deren Programm sich
       „Mutanfälle“ nennt.
       
       Land: Wenn sie das Haus nehmen und in eine Stadt stellen könnte, würde sie
       weggehen, sagt Kolbe. Was sie hält: der Garten, der Platz, bezahlbarer
       Wohnraum. „Ich wollte einfach nur einen Ort finden, den ich in allen Farben
       und Formen tapezieren kann, wo ich so laut und so sein kann, wie ich will.“
       Den hat sie mit dem Bauernhaus gefunden. Eines der alten Kinderzimmer im
       ersten Stock hat sie zum Kreativzimmer umfunktioniert. Die alten Fenster
       sind undicht. Es ist so kalt, dass die Goldfische des Ältesten erfroren
       sind, erzählt Kolbe. In Fließjacke und Stiefeln läuft sie über den schiefen
       Dielenboden. In den Regalen: eigene Bilder, Instrumente, Bastelzeug. „So
       eine Kunstliebe braucht Platz.“ Nur hier auf dem Land habe sie als
       Künstlerin eine Nische finden können. „In der Stadt gibt es schon genug von
       mir.“
       
       Wann sind Sie glücklich? Die Begeisterung, mit der sie als Jugendliche
       Gitarrespielen gelernt hat, die bedeutet für Kolbe Glück. Wenn sie etwas
       Ähnliches bei anderen Menschen beobachtet, etwa bei den Geflüchteten, dann
       macht sie das froh. „Glücklich bin ich, wenn ich kreativ bin.“
       
       26 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ann Esswein
       
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