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       # taz.de -- Victoria and Albert Museum in London: Die Oper ist Diskurs
       
       > Die Ausstellung „Opera: Passion, Power and Politics“ zeigt Europas
       > Kulturgeschichte des Singspiels. Das könnte sogar Schüler*innen
       > faszinieren.
       
   IMG Bild: Opernfreunde: Eva Gonzalès' „Une loge aux Italiens“
       
       Man möchte Schulklassen nach London schicken, damit sie in den Genuss des
       großartigen Blockbusters „Opera: Passion, Power and Politics“ im Victoria
       and Albert Museum kämen. Wetten, die 10- bis 15-Jährigen gehören nach dem
       Ausstellungsbesuch unbedingt zu den Freunden der (nicht nur italienischen)
       Oper?
       
       Denn als genuin europäische Kulturgeschichte entfaltet das Team um Kate
       Bailey, Chefkuratorin des Museums für Design und Bühnenbild, und Kasper
       Holten, Direktor des Londoner Royal Opera House, 400 Jahre Oper anhand von
       sieben Aufführungen in sieben europäischen Städten. Jede Station steht
       dabei für eine besondere Errungenschaft oder Situation: Paris für den
       großen Opernskandal, Leningrad für die Kunst in Zeiten von Diktatur und
       Dresden, man möchte es heute nicht glauben, für die Stadt der Avantgarde.
       
       In der Sainsbury Gallery, dem neuen Erweiterungsbau, mit dem das Museum
       1.100 Quadratmeter Ausstellungsfläche gewinnt, eröffnet Venedig den
       Städtereigen. Dort wurde die Oper von Claudio Monteverdi gewissermaßen aus
       der Taufe gehoben. 1642 feierte im neu erbauten Teatro Santi Giovanni e
       Paolo seine „L’incoronazione di Poppea“ Uraufführung.
       
       Leningrad, wo Dimitri Schostakowitschs 1934 seine „Lady Macbeth von Mzensk“
       herausbrachte, beschließt ihn. Zwar war Venedig zur Zeit Monteverdis wegen
       des aufblühenden transatlantischen Handels im Niedergang begriffen, doch
       gegenläufig zu seinem politischen Bedeutungsverlust blühte die Kultur in
       der Hauptstadt des Glücksspiels und der Kostümfeste. Die Sowjetunion
       dagegen, mit der Revolutionshauptstadt Leningrad, sah sich großen Zeiten
       und Zielen entgegenstürmen, wofür die Kultur in ein strenges ideologisches
       Korsett gepresst wurde.
       
       So unterschiedlich Power und Politics gelagert sind, so ähnlich gebärdet
       sich die Passion. Handelt Monteverdis Oper von fiesem, weiblichem Ehrgeiz,
       der schließlich zum Ziel kommt, wenn Nero seine Geliebte Poppea heiratet,
       nachdem er den Philosophen Seneca getötet und seine Ehefrau verstoßen hat,
       so moralisch anstößig ist auch Schostakowitschs Heldin aus dem Volk −
       gefunden vor Gericht, weil sie Schwiegervater, Mann und Neffen ermordet
       hatte, um mit ihrem Geliebten zusammenzusein.
       
       ## Entschieden männliches Unternehmen
       
       Freilich gilt für die Oper das, was in der taz anlässlich einer Aufführung
       in der Berliner Staatsoper bemerkt wurde: „Es ist weder gut noch böse, es
       ist Musik: Das offenbar war Monteverdis Erfindung, die noch heute
       nachwirkt.“ Sie ist in der Ausstellung auch ständig gegenwärtig, da man für
       den Rundgang exzellente Kopfhörer erhält. Der berühmten Schlussarie „Pur
       ti mio“ lauschend, einem wunderbaren Liebesduett, das die Soprane Danielle
       da Niese (Poppea) und Alice Coote (Nero) extra für die Schau eingesungen
       haben, betrachtet man in den Vitrinen venezianisches Glas und die damals
       typischen Stelzenschuhe und studiert das Porträt der Sängerin Anna Renzi
       (1620–1661).
       
       Weibliche Opernheldinnen und Sängerinnen, die sich wie Renzi ein hohes,
       selbst bei Krankheit oder abgesagtem Spielbetrieb zur Hälfte
       weiterbezahltes Gehalt vertraglich zusichern ließen, dazu die
       Kostenübernahme ihrer Kostüme und eine Opernloge zur freien Nutzung während
       der Karnevalsaison, sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die freie
       Republik Venedig ein entschieden männliches Unternehmen war.
       
       Nicht Sängerinnen, sondern Kastraten sind die Superstars der Musikwelt.
       Etwa der Italiener Nicolini (1673–1732), der − neben aufwändigen
       Bühneneffekten wie feuerspeienden Drachen und neckischen Seejungfrauen in
       tosenden Walzenwellen – in Georg Friedrich Händels 1711 in London
       uraufgeführter Oper „Rinaldo“ brillierte. Das Drama um die Eroberung
       Jerusalems im ersten Kreuzzug schreibt Operngeschichte, insofern das Stück
       die erste für Londoner Publikum geschriebene Oper ist, die durchweg in
       Italienisch gesungen wurde, wobei der Komponist die Produktion
       kontrollierte.
       
       Die Schulkinder, den Chor der Meerjungfrauen mit „Il Vostro maggio“ im Ohr,
       informierten sich hier nicht nur amüsant und ästhetisch anspruchsvoll über
       gender trouble; sie erführen dazu Interessantes über das Aufkommen des
       Kaffeehauses und seine Bedeutung für die Kulturszene Londons sowie das
       entstehende Zeitungswesen.
       
       Just in dieser Presse liest man im Museum verblüffend Aktuelles: Obwohl
       London Zentrum der Handelsmacht Großbritannien ist und nebenbei bemerkt
       auch als weltgrößter Sklavenhändler agiert, mögen die Engländer das Fremde
       nicht; nicht den Deutschen und nicht das in fremder Sprache gesungene
       Spektakel, in das er sie von Shakespeare weglockt.
       
       ## Raffinesse der Ausstattung
       
       Ein gender bender ist erst recht Mozart, mit dem die Ausstellung nach Wien,
       zur Premiere von „Le nozze di Figaro“ 1786 einlädt. In Wien, das als ein
       Zentrum der Aufklärung vorgestellt wird, hat die Kostümabteilung des V & A
       ihren großen Auftritt, mit exzellenten, freilich französischen
       Kleidungsstücken wie sie dennoch Mozarts Graf und Gräfin Almaviva getragen
       haben könnten. Überhaupt ist die Oper, in der ja nicht nur vokale und
       instrumentale Kunstfertigkeit eine herausragende Rolle spielen, der
       Idealfall, die Qualitäten des V&A herauszustellen.
       
       Schließlich prunkt die Oper auch mit der Raffinesse ihrer Ausstattung,
       seien es die Kostüme und Objekte, seien es bühnentechnische Innovationen
       und der Raum. Gleichgültig also, ob es sich um eine Erzlaute handelt, die
       Cristoforo Choc 1650 baute, um eine Ansicht von 1830 des neu renovierten
       Innenraums des Teatro alla Scala in Mailand, wo 1842 Giuseppe Verdis
       „Nabucco“ uraufgeführt wurde, ein Opernglas aus dem späten 19. Jahrhundert
       oder um ein Ölgemälde von Edgar Degas, in dem der Maler 1876 eine
       Ballettszene aus Giacomo Meyerbeers „Robert le diable“ festhält: Alle
       diese Exponate finden sich in den reichen Sammlungen des eigenen Hauses.
       
       Ergänzt werden sie durch Leihgaben, etwa Edouard Manets „Musik im
       Tuileriengarten“ 1861/62 aus der National Gallery. Nach Mailand und Verdis
       „Nabucco“ ist man damit in Paris und – die Berliner Staatskapelle unter
       Daniel Barenboim im Kopfhörer − bei Richard Wagners „Tannhäuser“. Die
       Aufführung (Premiere war in Dresden) verdankte sich hochherrschaftlichen
       Kungeleien. Deshalb störten, von langer Hand geplant, kaiserkritische
       Aristokraten die Aufführung. Als Jockey-Club bekannt, wollten sie die
       Kreise am Hof bloßstellen, die die Aufführung durchgedrückt hatten. Am
       dritten Abend zog Wagner sein Werk zurück.
       
       Ersichtlich ist Oper also ein Elitenprojekt, deshalb freilich keineswegs
       immer nur glänzende Selbstfeier. Auch das zeigen die Exponate. Oft genug
       werfen Librettisten und Komponisten einen kritischen Blick auf die
       Gepflogenheiten der herrschenden Klasse wie auf den Geschmack der
       tonangebenden Kreise. Als literarisches wie musikalisches, ökonomisches wie
       modisches, traditionell-repräsentatives wie avantgardistisches Ereignis ist
       die Oper in ihrer komplexen kontextuellen Verfasstheit schon immer Diskurs.
       
       ## Überwältigende Resonanz
       
       Ihn muss der Diktator definieren. Zwei Jahre lief Schostakowitschs „Lady
       Macbeth“ unbeanstandet und mit sehr erfolgreich in Leningrad und Moskau, da
       kehrte Stalin den Herrn im Haus hervor, der „linke Zügellosigkeit an Stelle
       einer natürlichen, menschlichen Musik“ erlebte und „gröbsten Naturalismus“
       anstelle von sozialistischem Realismus, wie in dem ihm zugeschriebenen
       Artikel „Chaos statt Musik“ in der Prawda vom 28. Januar 1936 zu lesen
       ist.
       
       Chaos meinte auch das Londoner Publikum zu sehen, anlässlich der
       „halluzinatorischen Fantasie“, die Richard Brook (Regie) 1949 bei seiner
       Zusammenarbeit mit Salvador Dalí (Kostüme und Bühnenbild) zu Richard
       Strauss’ „Salome“ vorschwebte. Nach nur sechs Aufführungen im Royal Opera
       House wurde die Inszenierung abgesetzt. 1905 war das umstrittene Stück mit
       überwältigender Resonanz als Oper uraufgeführt worden.
       
       In Dresden, einer der Moderne aufgeschlossenen Stadt, wie Exponate der
       Brücke-Maler belegen. Großleinwände, zwischen denen man schließlich dem
       Ausgang zustrebt, zeigen allerdings Brooks Regietheater als die
       Innovation, die die Oper lebendig hält und politisch aktuell. – Wirksam
       unterstützt von Wladimir Putin, unter dem der Künstler, hier der
       Regietheaterstar Kirill Serebrennikow, wie gehabt verhaftet und ins
       Gefängnis geworfen wird.
       
       23 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Brigitte Werneburg
       
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