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       # taz.de -- SPD-Parteitag in Berlin: Uneins zusammen
       
       > Martin Schulz entschuldigt sich bei seinen Genossen für das
       > SPD-Wahlergebnis. Angesichts einer neuen großen Koalition reicht das
       > nicht.
       
   IMG Bild: Es soll ja nach was aussehen
       
       Berlin taz | Martin Schulz reckt auf der blau ausgeleuchteten Bühne beide
       Daumen in die Luft, winkt einer Genossin zu. Dann wedelt er mit beiden
       Händen, um den Applaus zu dämpfen. „Wir brauchen die Debattenzeit.“ Der
       SPD-Chef hat gerade seine vielleicht wichtigste Rede gehalten, sie war eher
       mittelprächtig, trotzdem könnte er noch minutenlang die pflichtschuldigen
       Standing Ovations der Delegierten genießen.
       
       Aber Schulz weiß, wie groß der Diskussionsbedarf bei den 600 Delegierten in
       der Berliner Messehalle ist. Soll die SPD wieder mal Gespräche mit der
       Union führen? Um, wie viele hier fürchten, am Ende doch wieder in eine
       Große Koalition einzutreten? An der Seite Merkels verschwand die SPD fast
       in der Bedeutungslosigkeit. 23 Prozent waren es 2009, 20,5 Prozent im
       September. Die Groko wirkt wie eine Rutschbahn ins Nirvana.
       
       Dennoch, so will es der SPD-Vorstand in seinem Leitantrag, soll wieder mit
       CDU und CSU gesprochen werden. Ergebnisoffen und ohne Automatismus. Auch
       eine Minderheitsregierung oder Neuwahlen sollen im Spiel bleiben. „Wir
       müssen nicht um jeden Preis regieren“, ruft Schulz in die Halle. Applaus.
       „Aber wir dürfen auch nicht um jeden Preis nicht regieren wollen.“ Da wird
       es still. Für das offene Vorgehen, so Schulz, gebe er den Delegierten seine
       Garantie.
       
       Ist das so? Der Leitantrag tut maximal entschieden, listet diverse Wünsche
       aus dem Wahlprogramm auf, nennt aber keine einzige unverzichtbare Bedingung
       für eine Groko. So liest sich eine Blaupause für Sondierungen. Eigentlich
       müssten auf dem Parteitag also die Fetzen fliegen.
       
       Schulz tastet sich in seiner Rede durch vermintes Gelände. „Ich trage als
       Kanzlerkandidat die Verantwortung für dieses Wahlergebnis.“ Er bittet um
       Entschuldigung für seinen Anteil an der Niederlage. Das sind neue Töne für
       einen Spitzenfunktionär der SPD. Die Demutsgeste kommt an, ein Basismann
       wird sie später am Redepult loben. Schulz weiß, dass er nach der Wahl nur
       knapp an einem Rücktritt vorbeigeschrammt ist.
       
       ## Vereinigte Staaten von Europa
       
       Schulz redet am längsten über Europa. Das Thema könnte eine Brücke in die
       Koalition sein. Als EU-Parlamentspräsident hat Schulz jahrelang mit Merkel
       zusammengearbeitet. Der SPD-Chef wettert gegen Schäubles Spardiktat,
       plädiert für Investitionen in ein Eurozonenbudget und einen europäischen
       Finanzminister. Die Vorschläge kommen von Frankreichs Präsident Emmanuel
       Macron. Seine Reformideen liegen auf dem Tisch, Deutschland fällt bisher
       als Partner aus.
       
       Schulz hat sich einen weitreichenden Vorschlag ins Manuskript geschrieben.
       Er will die EU bis 2025 in Vereinigte Staaten von Europa mit einem
       gemeinsamen Verfassungsvertrag umwandeln. Staaten, die den Vertrag für ein
       föderales Europa nicht unterschrieben, müssten dann die EU verlassen.
       
       Wie aussichtslos diese Idee in der krisengeschüttelten EU im Moment ist,
       sagt Schulz nicht dazu. Wünsch-dir-was, das für gute Stimmung auf einem
       Parteitag sorgt. Wer, so Schulz’ Botschaft, soll mit Macron Europa retten –
       wenn nicht wir?
       
       Arbeit ist neben Europa der zweite Schwerpunkt seiner Rede. Schulz wettert
       gegen den Boom von Leiharbeit und Befristungen. Und widmet sich dem neuen
       Prekariat, das die Mittelschicht mit Dienstleistungen versorgt, den
       Paketboten, Programmierern oder Fahrern. Die SPD als moderne Kümmererin –
       ein bisschen Selbstvergewisserung tut immer gut.
       
       Schulz’ Rede wirkt moderat, mittelprächtig. Alles ist drin, jeder wird
       bedient, aber der Funke springt nicht über. Der eine entscheidende Satz,
       die leuchtende Botschaft fehlt. Alle haben noch die wuchtigen Sätze Sigmar
       Gabriels im Ohr, mit denen er die SPD 2009 auf Erneuerung in der Opposition
       einschwor. „Wir müssen raus ins Leben“, sagte Gabriel, „da, wo es laut ist;
       da, wo es brodelt; da, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt.“
       
       ## Sachlichkeit statt Gefühlsüberschwang
       
       Auch die Aussprache nach der Schulz-Rede zeigt: Die SPD debattiert eher
       sachlich als mit Gefühlsüberschwang. Die Diskurslage ist verzweigt und
       nicht bloß in Pro- und Kontra-Groko gespalten. Direkt für ein Bündnis mit
       der Union votiert nur Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil. Jene,
       die das wollen, bleiben in der Deckung. Der Zeitpunkt für Plädoyers für die
       Große Koalition kommt noch, später, in ein paar Wochen.
       
       Jetzt aber gibt es viel Abneigung gegen die Aussicht, wieder mit Merkel zu
       regieren. Aber die Skeptiker sind in sich gespalten. Der neue Juso-Chef
       Kevin Kühnert plädiert schwungvoll dafür, die Groko auszuschließen. „Es
       geht darum, dass von diesem Laden noch etwas übrig bleibt“, ruft Kühnert.
       Wenn die SPD wieder in der Groko lande, sei „die Erneuerung der Partei“
       passé. Der Applaus bleibt freundlich. Die Reihen haben sich gelichtet.
       Viele Delegierten sind erst mal beim Mittagessen.
       
       Malu Dreyer, Ministerpräsidentin in Rheinland-Pfalz und innerparteilich
       anschlussfähig in viele Richtungen, will lieber eine Minderheitsregierung.
       „Wir werden eher in der Opposition stärker als in der Regierung.“ Aber sie
       warnt vor allem, vorab etwas auszuschließen. „Ich sage in Richtung Jusos:
       Das Nein zur Groko ist falsch.“ Die Stärke der Pro-Groko-Fraktion in der
       Partei ist die Schwäche der Gegner. Denn die haben weder einen
       einleuchtenden Plan, wie eine Minderheitsregierung funktionieren könnte –
       und auch keine Strategie, wann und wie man den Prozess Richtung Groko
       stoppen will.
       
       ## Polemik ist Mangelware
       
       Mike Groschek, Chef der SPD in Nordrhein-Westfalen, die rund ein Viertel
       der Delegierten stellt, macht den Jusos ein Angebot. Die Basis in Bayern,
       Berlin und zwischen Rhein und Ruhr ist besonders schlecht auf die Groko zu
       sprechen. Groschek schlägt vor – als noch eine Sicherungsmaßnahme – über
       mögliche Koalitionsverhandlungen nicht bloß einen Konvent, sondern einen
       Parteitag entscheiden zu lassen. Aber damit nimmt er dem Nein der Jusos vor
       allem gehörig Wind aus den Segeln.
       
       So gedämpft bleibt die Tonlage. Achtzig Genossen debattieren stundenlang
       über Für und Wider der Regierungsbeteiligung, für und wider von
       Minderheitsmodellen. Auffällig ist, dass sich kaum jemand direkt auf
       Schulz’ Rede bezieht – ein Zeichen, dass der SPD-Chef offenbar nicht mehr
       als den Konsens zusammengefasst hat. Aber: Es greift ihn auch keiner an.
       Vielmehr versichert man flügelübergreifend, dass man einander vertraut. Am
       deutlichsten wird Fraktionschefin Andrea Nahles: Den Groko-Gegnern, den
       Jusos wirft sie „Angst vor dem Regieren“ vor.
       
       Ansonsten ist Polemik Mangelware. Lieber loben sich RednerInnen
       gegenseitig. Etwas fehlt. Die Dringlichkeit, die eigentlich angesagt wäre.
       Vielleicht, weil die Partei einfach nicht weiß, wo es langgeht. Norbert
       Römer, Fraktionschef der SPD in Düsseldorf, bringt das Diffuse der Lage auf
       den Punkt: „Ich habe auf meinem Schreibtisch zwei Stapel mit Mails liegen.
       Die einen wollen austreten, wenn wir regieren. Die anderen, wenn wir nicht
       regieren.“ Die SPD verwaltet genau diese Zerrissenheit.
       
       7 Dec 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Schulte
   DIR Stefan Reinecke
       
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