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       # taz.de -- Loveparade-Prozess in Düsseldorf: Untergebene vor Gericht
       
       > Mehr als sieben Jahre nach dem Unglück beginnt der Prozess. Weder Ex-OB
       > Sauerland noch Veranstalter Schaller sind angeklagt.
       
   IMG Bild: An der Stelle, wo am 24. Juli 2010 viele der 21 Menschen starben, wird ihrer gedacht
       
       Die Rampe, die aus dem dunklen, niedrigen und dreckigen Karl-Lehr-Tunnel in
       Duisburg zum Gelände der letzten Loveparade führt, ist heute Gedenkstätte.
       Kreuze, Kerzen, Bilder erinnern an die Toten. Eine Tafel hängt an der Wand:
       „Hier starben am 24. 07. 2010 im Interesse der konsum- und
       profitorientierten Spaßindustrie 21 Menschen“, steht darauf.
       
       Manfred Reißaus, 55, bekommt seine Tochter Svenja an diesem Tag nicht mehr
       ans Telefon. Er fährt nach Duisburg. „Dort haben wir die Krankenhäuser, den
       Bahnhof abgesucht“ – die Namen aller Toten seien bereits bekannt, hat ihm
       die Polizei vorher versichert.
       
       Danach wartet Reißaus im Präsidium auf eine Nachricht. „Irgendwann kam
       heraus, dass ein Kind doch noch nicht identifiziert ist“, sagt er und atmet
       tief. „Erst hieß es, dass Svenja auf jeden Fall lebt – und elf Stunden
       später musste ich meine Tochter in der Pathologie identifizieren. Da war
       ich fertig.“
       
       Svenja Reißaus, 22, Jurastudentin, ist wie alle Toten der Loveparade durch
       Quetschung des Brustkorbs erstickt. Die Rampe am Fuß des Festplatzes rund
       um die verwahrlosten Hallen des alten Güterbahnhofs wurde auch für sie zur
       Todesfalle. Verletzt wurden mindestens 652 weitere Menschen – viele leiden
       noch heute unter den Bildern der Massenpanik, die sich in ihre Köpfe
       gefressen haben.
       
       ## Mischung aus Hoffnung und Misstrauen
       
       Manfred Reißaus kann das Bild seiner toten Tochter nicht vergessen. Seine
       eigene Firma musste der Malermeister schließen. Sicher, er habe Angestellte
       gehabt, die für ihn arbeiteten. „Aber ich konnte nichts mehr machen. Ich
       konnte nicht mehr rechnen. Mein Kopf war komplett leer.“ Seit Jahren ist er
       in psychologischer Behandlung.
       
       Auf den am heutigen Freitag beginnenden Loveparade-Prozess des zuständigen
       Landgerichts Duisburg blickt Reißaus mit einer Mischung aus Hoffnung und
       Misstrauen. Wie viele kann er nicht verstehen, warum die Justiz erst
       jetzt, mehr als sieben Jahre nach der Katastrophe, beginnt, die Schuldfrage
       zu klären. Und warum in dem Mammutverfahren, für das eigens eine Halle in
       der Düsseldorfer Messe mit 500 Sitzplätzen angemietet wurde, nicht die vor
       Gericht stehen, die entgegen allen Bedenken und Warnungen die Loveparade
       durchgesetzt haben – scheinbar um jeden Preis.
       
       Denn Veranstalter Rainer Schaller, der mit der Duisburger Loveparade wie
       schon in Essen und Dortmund Werbung für seine Billigfitnesskette McFit
       machen wollte, ist nicht angeklagt. Auch Duisburgs damaliger
       CDU-Oberbürgermeister Adolf Sauerland, der im Kulturhauptstadt-Jahr 2010
       auf schöne Bilder aus seiner vom Niedergang der Schwerindustrie und hoher
       Arbeitslosigkeit gezeichneten Stadt hoffte, muss sich nicht vor Gericht
       verantworten.
       
       ## Immer wieder Druck gemacht
       
       Sauerlands damaliger Dezernent für Sicherheit und Recht, Wolfgang Rabe,
       sitzt ebenfalls nicht auf der Anklagebank. Dabei hat Ordnungsdezernent Rabe
       als enger Vertrauter Sauerlands innerhalb der Stadtverwaltung massiv Druck
       für die Genehmigung gemacht – immer wieder erklärte er laut internen
       Protokollen, dass „der OB die Veranstaltung wünsche“. Trotzdem wurde gegen
       Schaller und Sauerland nicht einmal ermittelt: Beide hätten sich nicht mit
       der konkreten Planung der Loveparade beschäftigt, erklärte der leitende
       Oberstaatsanwalt Horst Bien bereits 2014. „Strafrechtlich“ treffe sie
       deshalb keine Schuld.
       
       Vor Gericht stehen stattdessen Exstadtentwicklungsdezernent Jürgen Dressler
       und fünf seiner MitarbeiterInnen, darunter die Juristin Anja Geer, 2010
       Leiterin des Bauamts der Stadt Duisburg. Verantworten müssen sich auch vier
       Angestellte der Firma Lopavent, die Veranstalter Schaller für die
       Durchführung der insgesamt fünf im Ruhrgebiet geplanten Loveparades
       gegründet hatte. Sie arbeiteten als Gesamtleiter, technischer Leiter,
       Produktionsleiter, Sicherheitschef.
       
       Allen Angeklagten legt die Staatsanwaltschaft fahrlässige Tötung und
       fahrlässige Körperverletzung zur Last – die Höchststrafe dafür liegt bei
       fünf Jahren Haft. Kern der Vorwürfe: Alle zehn hätten vom Schreibtisch aus
       lange vor dem 24. Juli 2010 erkennen können und müssen, dass der Weg zum
       Festplatz, auf dem die „Floats“ genannten Techno-Trucks ihre Runden
       drehten, lebensgefährlich werden könnte.
       
       Einziger Zugangsweg für die mindestens erwartete Viertelmillion
       BesucherInnen war der 18 Meter breite, hunderte Meter lange
       Karl-Lehr-Tunnel. Das Loveparade-Gelände liegt eingezwängt zwischen den
       Gleisen der Bahnstrecke Duisburg–Düsseldorf und der Autobahn 59. Im Tunnel
       zweigt die Rampe, die zum alten Güterbahnhof führt, dann rechtwinklig ab.
       Trotzdem diente sie nicht nur als Eingang, sondern auch als Ausgang.
       
       ## 2.000 Seiten Gutachten
       
       Beinahe wäre der Loveparade-Prozess geplatzt. Die Staatsanwaltschaft
       stützte ihre Anklage zunächst allein auf ein Gutachten des britischen
       Professors Keith Still, der als Experte für „Menschenstromdynamik“ und die
       dazu gehörenden Risikoanalysen gilt.
       
       Doch das Landgericht Duisburg sah „gravierende inhaltliche und methodische
       Mängel“, hielt die Expertise für „nicht verwertbar“ – und lehnte es 2016
       mangels hinreichendem Tatverdacht ab, die Hauptverhandlung zu eröffnen.
       
       Erst auf Beschwerde der Kanzlei des ehemaligen FDP-Innenministers Gerhart
       Baum korrigierte das Oberlandesgericht Düsseldorf diese Absage im April
       2017: „Das Ermittlungsergebnis legt nah, dass die unzureichende
       Dimensionierung des Ein- und Ausgangssystems und die mangelnde
       Durchflusskapazität für die Besucher planerisch angelegt und für die
       Angeklagten vorhersehbar zu der Katastrophe geführt haben“, erklärte
       Oberlandesgerichtspräsidentin Anne-José Paulsen.
       
       Auch die Staatsanwaltschaft hat in der Zwischenzeit nachgelegt. Sie
       beauftragte Jürgen Gerlach, Professor für Straßenverkehrsplanung und
       -technik an der Uni Wuppertal, mit einem neuen Gutachten. Einen ersten,
       rund 2.000 Seiten starken Teil hat Gerlach bereits abgeliefert.
       
       ## Veranstaltung unter Zeitdruck geplant
       
       Der Hochschullehrer arbeitet darin heraus, dass zur Loveparade 2010 weniger
       als die Hälfte der genehmigten 250.000 BesucherInnen kamen – bei dem
       Mega-Rave hätten also noch weitaus mehr Menschen getötet oder verletzt
       werden können.
       
       Außerdem zeigt die Expertise, unter welchem Zeitdruck das Techno-Festival
       geplant wurde: Am 14. Juli – also zehn Tage vor der Loveparade, für die
       seit Monaten Werbung lief – fehlten „immer noch ein aktueller vermaßter
       Lageplan, das Brandschutzkonzept und ein angepasstes Sicherheitskonzept“.
       
       Ein Mitarbeiter des Duisburger Bauamts drohte daraufhin sogar, den Antrag
       auf Genehmigung der Techno-Parade „gebührenpflichtig (ein Viertel der
       Genehmigungsgebühr)“ zurückzuweisen. Dass eine Absage durchaus möglich
       gewesen wäre, hatten zuvor Verantwortliche im benachbarten Bochum gezeigt:
       Wegen mangelnder Kapazität des dortigen Hauptbahnhofs wurde die Loveparade
       2009 dort abgesagt. „Überleben ist wichtiger“, mahnte Polizeipräsident
       Thomas Wenner. Allerdings: Noch im gleichen Jahr wurde er gegen seinen
       Willen in den Ruhestand versetzt.
       
       Der Anwalt Gerd-Ulrich Kapteina, der einen Bauamtsmitarbeiter verteidigt,
       sieht seinen Mandanten dennoch zu Unrecht auf der Anklagebank. „In
       Übereinstimmung mit dem Bauministerium und dem Innenministerium sind wir
       der Auffassung, dass Baugenehmigungen keine Veranstaltungsgenehmigungen
       sind“, sagt der Jurist, der bis Ende 2016 Richter am Verwaltungsgericht
       Düsseldorf war. Übersetzt heißt das: Das Duisburger Bauamt habe die
       Loveparade weder genehmigen können noch dürfen – zuständig wäre das
       Rechtsamt des nicht angeklagten Ordnungsdezernenten Rabe gewesen.
       
       ## „Warum diese Angeklagten?“
       
       „Warum sich die Staatsanwaltschaft genau diese Angeklagten herausgesucht
       hat, ist nicht leicht nachvollziehbar“, klagt auch Philip von der Meden,
       der einen Lopavent-Mitarbeiter vertritt. Tatsächlich bleibt zumindest bis
       zur Vorlage des zweiten Teils des Gerlach-Gutachtens, dass erst nach der
       Beweisaufnahme fertig sein soll, unklar, wer am Tag der Loveparade selbst
       Fehler gemacht hat.
       
       So muss sich kein einziger Polizeibeamter vor Gericht verantworten – obwohl
       deren Sperren am Tunnel von Feierwütigen überrannt wurden. „Da etwaige
       Taten anderer Personen aber inzwischen verjährt sind, wird das jedenfalls
       strafrechtlich nicht mehr aufgearbeitet werden“, sagt Anwalt von der Meden.
       
       Für die Angehörigen der Toten, für die Überlebenden aber bleibt der Prozess
       unendlich wichtig. Nadine Lange etwa geriet zusammen mit ihrem Mann und
       ihrem Bruder beim Gehen in das tödliche Gedränge an der Rampe. „Es wurde so
       eng, dass ich Panik gekriegt habe. Ich dachte, wenn ich jetzt nicht
       wegkomme, war es das.“ Lange, am Unglückstag 27, musste ihre Arbeit als
       Altenpflegerin in den vergangenen sieben Jahren mehrfach unterbrechen. Zwei
       Therapien hat sie gebraucht, noch immer geht es ihr nicht gut. Wie Manfred
       Reißaus und 58 andere tritt sie als Nebenklägerin auf und sagt: „Ich will,
       dass endlich die Wahrheit herauskommt.“
       
       Reißaus dagegen bleibt skeptisch. „Schon aus Selbstschutz“, sagt er mit
       Blick auf den enormen Zeitdruck, unter dem der Prozess mittlerweile steht:
       Die Urteile müssen bis zum Sommer 2020 gesprochen sein – sonst tritt zehn
       Jahre nach dem Unglück die absolute Verjährung ein.
       
       8 Dec 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Wyputta
   DIR Hanna Voß
       
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