URI: 
       # taz.de -- Polizeigewalt im Stadion: Konsequenz einer Gewaltorgie
       
       > Erst nach 10 Jahren erhielten die Opfer prügelnder Polizisten Recht. Sie
       > mussten bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen.
       
   IMG Bild: Ständige Machtdemonstration der Polizei nicht nur gegenüber Ultras
       
       Es ist ein kalter Dezembertag an dem das Derby-Spiel München 1860 gegen FC
       Bayern im Stadion an der Grünwalder Straße stattfindet. Für 2.000 Fans in
       der Westkurve sollte es kein gewöhnlicher Spieltag werden. Nach Beendigung
       des Derbys wollen die Menschen das Stadion verlassen, doch die Polizei
       verhängt eine Blocksperre. Kurze Zeit später wird sie aufgehoben, die
       Menschen strömen friedlich aus der Kurve.
       
       Sie wissen noch nichts von der Eskalation, die sie gleich erwarten wird: Im
       Eingangsbereich steht die Polizei Spalier und knüppelt wild auf die Menge
       ein. Die Hauptzugänge sind abgesperrt, Fluchtmöglichkeiten gibt es keine.
       Draußen geht die Gewaltorgie weiter, manche werden bis zum naheliegenden
       Giesinger Berg verfolgt.
       
       Dem Fan Ingo Hentschel wird eine schwere Platzwunde im Gesicht zugefügt, er
       schleppt sich zu einem Polizeiauto, bittet um Hilfe. Ein Polizist entgegnet
       ihm: „Schleich dich, du Penner!“ Einem weiteren Fan, Matthias Stark,
       schlägt ein Beamter die Brille aus dem Gesicht, sprüht ihm Pfefferspray in
       die Augen und traktiert ihn in wehrlosem Zustand mit dem Knüppel. 10 Jahre
       sollten die beiden Löwen-Fans an diesen Tag erinnert werden. Denn sie sind
       die einzigen, die den Mut hatten, Anklage zu erheben.
       
       Herbert Schröger geht seit 45 Jahren ins Stadion. Er ist bei „Löwen-Fans
       gegen Rechts“ engagiert und hat Stark und Hentschel durch den Prozess
       begleitet. „In den 70ern und 80ern war das Stadion quasi ein rechtsfreier
       Raum. Die Fans haben gemacht was sie wollten. Mittlerweile denkt man, man
       geht in einen Hochsicherheitstrakt.“, erzählt er in grollend bayerischem
       Dialekt.
       
       ## „2.000 Leute nachhaltig traumatisiert“
       
       „Nach dem Vorfall, bei dem, schätze ich, so 2.000 Leute nachhaltig
       traumatisiert wurden, wollte niemand klagen. Die hatten alle Angst, obwohl
       sie Unrecht erfahren haben. Die haben entweder gesagt, wenn ich gegen die
       Polizei klage, dann bekomme ich richtig Ärger, oder, da kommt sowieso
       nichts bei raus.“ Hentschel und Stark haben es gewagt und durchgehalten.
       
       „Was in den 10 Jahren passiert ist, hat die eigentliche Gewalttat nochmal
       getoppt. Am nächsten Tag stand im Polizeibericht, dass keinerlei besondere
       Vorkommnisse passiert wären.“, berichtet Schröger. Daraufhin habe es
       wütende Briefe an Presse und Polizei gegeben, die Staatsanwaltschaft nahm
       die Ermittlungen auf. Bald allerdings wurden sie wieder mit der Begründung
       eingestellt, dass die Polizisten aufgrund fehlender Kennzeichnung nicht zu
       identifizieren wären.
       
       Die Kläger drängen darauf, das Videomaterial zu untersuchen, das von der
       Dokumentationseinheit des USK (Unterstützungskommando) angefertigt worden
       war. Diese Gesuche wurden vom USK abgeblockt. Eines Tages stellte sich
       heraus, dass das Videomaterial aus dem Panzerschrank, in dem es gelagert
       war, verschwunden ist. Zwar verfügten nur drei Beamte über einen Schlüssel,
       trotzdem wird dieser Vorfall von Aktenvernichtung nie aufgeklärt.
       
       ## Beweismaterial professionell vernichtet
       
       Immer wieder wird das Verfahren eingestellt, die Kläger gehen durch alle
       Instanzen, vom Oberlandesgericht an, über das Bundesverfassungsgericht bis
       sie schließlich beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte landen.
       Nun gibt es für jeden der beiden Kläger 2.000 Euro Entschädigung. Die Täter
       sind allerdings nicht ausgemacht worden. Das scheiterte nicht zuletzt am
       fehlenden Willen von Polizei und Justiz: Nicht alle Beamten sind vernommen
       worden.
       
       Begründet wurde dies mit der Annahme, die Polizisten würden sowieso die
       Aussage verweigern. „Wenn das so ist, braucht man ja überhaupt keine Zeugen
       mehr vernehmen. Was soll das denn bitte?“, so Schröger. Trotzdem freut er
       sich über das Urteil. „Wir haben sozusagen gegen Deutschland gewonnen. Die
       Prügler laufen zwar frei rum, sind wahrscheinlich immernoch bei der
       Polizei. Aber wir haben gezeigt, dass man es schaffen kann.“
       
       Mit dem Druck der Verbände, das Stadion zu einem ‚unpolitischen‘ Ort zu
       machen, wird die Arbeit von Fangruppen wie „Löwenfans gegen Rechts“
       erschwert. Rechte und Neonazis versuchen nämlich unter dem Deckmantel des
       ‚Unpolitisch-Seins‘ Fanstrukturen zu unterwandern. Kriminalisiert werden
       meist linke Fangruppen, die auch die Kurve als Teil der Zivilgesellschaft
       begreifen. Zudem ist das Aufklärungspotential willkürlicher Gewalt durch
       die Polizei schwierig, denn oft ermittelt Polizei gegen Polizei. „Solange
       das so bleibt, ist die Chance, dass solche Verbrechen aufgeklärt werden,
       gering.“ Schröger hat einen triftigen Lösungsvorschlag für das Dilemma:
       
       „Man muss eine Kennzeichnungspflicht einführen, überall, damit einzelne
       Beamte identifiziert werden können. Und es muss unabhängige
       Ermittlungsbehörden geben, damit unvoreingenommen die Täter gefunden werden
       können. Polizei gegen Polizei – da verhindert der Corpsgeist schnelle und
       unparteiische Aufklärung.“
       
       ## Kennzeichnungspflicht abgeschafft
       
       Er hofft nun, dass das Urteil zum Präzedenzfall wird und auf politischer
       Ebene die Dringlichkeit einer Kennzeichnungspflicht für Polizist*innen
       offenlegt. Im Moment ist leider das Gegenteil zu beobachten. In NRW hat ein
       Schulterschluss von CDU, FDP und AfD die gerade erst eingeführte
       Kennzeichnungspflicht wieder abgeschafft.
       
       „Ich hoffe trotzdem, dass Leute, die Polizeigewalt erleben müssen, beim
       Fußball und bei Demos, den Mut fassen, anzuklagen. Es war keine einfache
       Angelegenheit, aber wir hatten eine starke Fanszene im Rücken. Man muss
       sich irgendwie organisieren, um diesem riesigen Apparat entgegenzutreten.“
       
       Bedenklich ist das Zeugnis, das Schröger der Justiz ausstellt: „Sich
       einfach auf die Gerichte verlassen kann man nämlich nicht. Mit
       Gewaltenteilung hatte das ganze nicht allzu viel zu tun.“ Wie konnte die
       Gewalt so eskalieren, obwohl keinerlei Provokationen von den Fans ausgingen
       und Mütter mit Kindern unter den Angegriffenen waren? „Wenn ich das wüsste,
       wär' ich schlauer.“, sagt Schröger achselzuckend, „da muss gehörig etwas
       schief gelaufen sein.“
       
       Er bemängelt aber, dass die Polizei des Öfteren im Stadion Situationen
       eskalieren lasse: „Wenn sie nix zu tun haben, provozieren sie etwas.
       Vielleicht ist das Nachwuchs, der sich austoben will. Man weiß es nicht.“
       Schröger fügt an: „Was ich allerdings sicher weiß: Man gibt die eigenen
       Rechte beim Betreten des Stadions ab.“
       
       26 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daphne Weber
       
       ## TAGS
       
   DIR Fußballfans
   DIR Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
   DIR TSV 1860 München
   DIR Ultras
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Fußball
   DIR Fußball
   DIR Kennzeichnungspflicht
   DIR Schwerpunkt Polizeikontrollen in Hamburg
   DIR Polizei
   DIR Oury Jalloh
   DIR Hertha BSC Berlin
   DIR Werder Bremen
   DIR Zehn Jahre Arabischer Frühling
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Polizeigewalt gegen Fans im Fußball: Ein Schlag ins Gesicht
       
       Ein Fan vom Fußballverein Babelsberg 03 wird beim Pokalspiel von Polizisten
       verletzt. Videos zeigen die Gewalt, die Beamten sehen sie als angemessen.
       
   DIR Kolumne Fremd und befremdlich: Ein Mittel der Vertuschung
       
       Demonstrierenden ist das Vermummen verboten, Polizisten nicht. Der Staat
       will dadurch Überlegenheit herstellen. Aber mit welchem Recht?
       
   DIR Kennzeichnungspflicht für Polizisten: Nur eine Nummer
       
       Am Mittwoch diskutiert die Bürgerschaft auf Antrag der FDP und der Linken
       eine Kennzeichnung von Polizisten. Rot-Grün hat das Thema drei Jahre lang
       liegen lassen.
       
   DIR Irrer Deal für Polizei in Meck-Pomm: Erkennen gegen Schießen
       
       Mecklenburg-Vorpommern führt zum 1. Januar die Kennzeichnungspflicht für
       Polizeibeamte ein. Im Gegenzug soll auch der „finale Rettungsschuss“
       eingeführt werden.
       
   DIR Debatte Fall Oury Jalloh: Wer wusste wann was?
       
       Rund um den Fall Oury Jalloh hat so ziemlich jeder geschwiegen. Ein
       Skandal, der Behörden und ihre Kontrollinstanzen betrifft.
       
   DIR Fußball und Polizei in Berlin: Klare Linie gegen Gewalt
       
       Ausschreitungen am Rande eines Hertha-Spiels im Februar beschäftigten den
       Innenausschuss. Fazit: Polizei und Verein arbeiten gut zusammen.
       
   DIR Polizeieinsatz bei HSV gegen Werder: Schusswaffen gegen Ultras gerichtet
       
       Mit Sturmhauben maskiert und mit gezogener Schusswaffe: Polizisten haben
       Fans von Werder Bremen am Besuch des Volksparkstadions gehindert.
       
   DIR Journalist über Ultras im Nahen Osten: „Durch Straßenkämpfe gestählt“
       
       Fußball ist eine Arena, in der um politische Kontrolle gekämpft wird, sagt
       James M. Dorsey. Dort werden gesellschaftliche Tabus zuerst gebrochen.