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       # taz.de -- Künstliche Intelligenz und Schach: Erschreckend klug
       
       > Alpha Zero hat in nur vier Stunden Schach erlernt. Gegen die künstliche
       > Intelligenz haben weder Menschen noch Schachprogramme die leiseste
       > Chance.
       
   IMG Bild: Wenn Alpha Zero Schwarz ist, wird das hier nie wieder passieren
       
       „Ich bin geschockt. Das ist ein neues, großes Ding, was Schach komplett
       ändert – es ist verrückt“, fasst US-Großmeister Wesley So seine Gefühlslage
       zusammen. Selbst beim Finale der Grand Chess Tour in London standen
       Weltmeister Magnus Carlsen & Co im Schatten einer Nachricht aus dem Hause
       Google: Das Programm Alpha Zero zertrümmerte als Debütant eines der drei
       weltweiten Topprogramme, „Stockfish“.
       
       Schon alleine das Ergebnis von 28 Siegen und 72 Unentschieden – bei keiner
       einzigen Niederlage in 100 Partien! – hatte gereicht, um Begehrlichkeiten
       zu wecken. Der russische Vizeweltmeister Sergej Karjakin würde sofort
       100.000 Dollar auf den Tisch legen, um als einziger Spieler „Zugriff auf
       Alpha Zero zu haben“.
       
       Konkurrent Maxime Vachier-Lagrave hätte unbesehen „Siebenstelliges“
       überwiesen, so der Franzose „das Geld hätte“. Schließlich reicht schon die
       Qualität von „Stockfish“, um Weltmeister Magnus Carlsen in einem
       zehnrundigen Wettkampf rein rechnerisch mit 9:1 auseinanderzunehmen. Gegen
       Alpha Zero hätte der Norweger, dem Platz drei in London zum Gesamtsieg bei
       der Grand Chess Tour knapp vor Vachier-Lagrave (beide 5:4 Punkte) reichte,
       noch geringere Aussichten auf ein Remis.
       
       „Ich würde nicht einmal davon träumen, eine Partie gegen ,Stockfish' zu
       gewinnen“, gesteht der Weltranglistenfünfte aus Frankreich und zeigt sich
       „extrem beeindruckt“ von Alpha Zeros Überlegenheit. Doch nicht allein diese
       ist für Schachspieler erschreckend. Die Denkstrategen blicken zig Züge
       voraus und ahnen: Das Programm von Demis Hassabis lässt das von Menschen
       gespielte Schach doch sehr lächerlich aussehen. Denn Alpha Zero brachte
       sich das Schachspiel in nur vier Stunden anhand von Großmeister-Partien
       selbst bei und sammelte in der Zeitspanne mehr Erkenntnisse als der Mensch
       in den rund 1.500 Jahren des königlichen Spiels zuvor! Schachfans fühlen
       sich womöglich an den Film „Matrix“ erinnert und halten denkende Roboter
       für die Wachablösung.
       
       Dabei sind es die Schachmeister bereits seit 20 Jahren gewohnt, dass
       Programme ihnen den Rang ablaufen. Damals hatte „Deep Blue“ von IBM
       Weltmeister Garri Kasparow in einem Wettkampf über sechs Partien knapp
       geschlagen. Angesichts der rasanten Entwicklung freundeten sich alle mit
       den Engines an und nutzen diese zur exzessiven Eröffnungsvorbereitung.
       
       ## Was, wenn Alpha Zero länger als vier Stunden lernt?
       
       Doch der Kantersieg über „Stockfish“ stellte noch einmal einen
       Quantensprung dar. „Ich war erstaunt“, räumt Fabiano Caruana, der das
       Londoner Turnier im Stichkampf vor dem Russen Ian Nepomniachtschi (beide 6)
       gewann, ein und überlegt, „was erst möglich ist, wenn Alpha Zero länger als
       vier Stunden lernt …“
       
       Überraschend kommt die Entwicklung nicht. Im Mai hatte sich sein schlaues
       Brüderchen „Alpha Go Zero“ das noch komplexere Spiel Go in drei Tagen
       selbst beigebracht und den Weltranglistenersten Ki Jie mit 3:0 überfahren.
       Der 19-jährige Chinese war während des dritten Duells den Tränen nah, wurde
       kolportiert. Auch fünf Go-Asse konnten zusammen in einer Beratungspartie
       nichts gegen die Künstliche Intelligenz ausrichten. Beide selbstlernenden
       Programme stammen von Deep Mind, einem Forschungsinstitut für künstliche
       Intelligenz in London, das die Google-Konzernmutter Alphabet vor drei
       Jahren für angeblich fast eine halbe Milliarde Euro aufkaufte.
       
       Hinter dem Projekt steckt mit Hassabin ein einstiges Schach-Wunderkind. Der
       griechischstämmige Londoner war mit 13 Jahren der beste Schachspieler
       seines Alters – hinter der Ungarin Judit Polgar, die später mit 15 Jahren
       den legendären Rekord des US-Genies Bobby Fischer als jüngster Großmeister
       brach. Hassabin entwickelte sich mit Deep Mind zu Googles Superhirn.
       
       ## Monte-Carlo-Simulationen
       
       Während Top-Schach-Engines etwa um die 70 Millionen Stellungen pro Sekunde
       bewerten, prüft „Alpha Zero“ mit rund 80.000 fast nur ein Promille – dafür
       aber die Richtigen. Schon Alpha Go Zero hatte auf sogenannte
       Monte-Carlo-Simulationen vertraut, obwohl diese für Würfelspiele wie
       Backgammon geeigneter erschienen. Hassabin brachte die Idee wieder zurück,
       nachdem Schachprogrammierer bis dato mehr auf die Brute-Force-Rechengewalt
       vertraut hatten.
       
       „Stockfish“-Autor Tord Romstad glaubt, dass Alpha Zero mit einer längeren
       Vorbereitung seine Engine noch mehr überrollt hätte. Die Pleite erklärt der
       Programmierer aber auch damit, dass „Stockfish“ nicht auf die Bedenkzeit
       von einer Minute pro Zug optimiert sei – vor allem jedoch lief ein bereits
       ein Jahr alter „Stockfish“ auf einem handelsüblichen Computer, während sein
       Bezwinger sich auf aufgepeppte Hardware eines Konzerns, bei dem Geld keine
       Rolle spielt, habe stützen können. Deshalb findet Romstad, bei dem
       ungleichen Duell seien „Äpfel mit Orang-Utans verglichen worden“. Weil der
       norwegische Landsmann von Magnus Carlsen aber auch erwartet, dass Alpha
       Zero seine Kunst irgendwann auf einem normalen Rechner beweist, sehen
       Skeptiker ihre Zukunftsängste bestätigt.
       
       12 Dec 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hartmut Metz
       
       ## TAGS
       
   DIR Schach
   DIR Schwerpunkt Künstliche Intelligenz
   DIR Magnus Carlsen
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