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       # taz.de -- Merkels Macht in der Union: Angeschlagen, aber ohne Konkurrenz
       
       > Was bedeutet die geplatzte Jamaika-Regierung für die Bundeskanzlerin?
       > Merkels Kritiker sehen ihr Ende gekommen – doch dafür spricht nicht viel.
       
   IMG Bild: Unruhige Zeiten: Angela Merkel steht unter Druck
       
       Berlin taz | Es gibt wenig, was Angela Merkel lieber tut als dies:
       nachdenken. Lange über einer Fragestellung brüten, das Für und das Wider
       abwägen, Erfahrungen auswerten, Rat einholen. Und dann: entscheiden. Sie
       hat das in einer Talkshow im Sommer mal erläutert. Über die Frage, ob sie
       zum vierten Mal als Kanzlerin antreten sollte, sagte Merkel da, habe sie
       „unendlich nachgedacht“. Für eine Kandidatur habe letztlich die Tatsache
       eine Rolle gespielt, „dass wir in nicht ganz so ruhigen Zeiten leben“.
       
       Damals, Ende Juni, meinte Angela Merkel Donald Trumps Politik. Heute, zwei
       Monate nach der Bundestagswahl, herrschen auch im Merkel-Land unruhige
       Zeiten. Neuwahl, Minderheitenregierung, Große Koalition – das sind jetzt
       die Alternativen, selbst wenn SPD-Chef Martin Schulz eine
       Regierungsbeteiligung seiner Partei ausgeschlossen hat.
       
       Um das, was schiefgegangen ist, zu überdenken und langfristige Strategien
       in den Blick zu nehmen, bleibt plötzlich kaum noch Zeit. Nach wochenlangen
       Gesprächen mit den Liberalen und den Grünen ist in der Nacht zum Montag
       FDP-Chef [1][Christian Lindner vorgeprescht und hat das Scheitern] der
       Verhandlungen verkündet. „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu
       regieren“ – jeder kennt nun Lindners Satz. Damit ist die Jamaika-Koalition
       gescheitert.
       
       Aber ist damit auch Angela Merkel gescheitert? Ist dieser 20. November 2017
       der Anfang vom Ende einer Ära? Manches spricht dafür. Aber, wie es eben so
       ist, vieles auch dagegen. Merkel, sagen ihre Kritiker, habe den
       Sondierungsprozess nicht entschieden genug vorangetrieben. Sie habe laviert
       und darauf vertraut, dass alle Beteiligten sich verhaken, bis sie ihre
       eigene Agenda durchsetzen kann.
       
       ## Innerparteilich angezählt
       
       Im Gegenteil, hört man aus dem innerparteilichen Team Merkel: Sie habe
       ausdrücklich nicht eskaliert, sondern Raum für Argumente gelassen. In der
       Telefonkonferenz des CDU-Präsidiums am Montagvormittag habe sie
       „aufgeräumt“ gewirkt. Schon ihre Formulierung nach dem Scheitern – „mit
       allem Respekt für die FDP“ – zeige ihren nötigen Ernst in der Sache. Im
       Übrigen habe das Ausscheren der FDP dafür gesorgt, dass CDU und CSU wieder
       ganz eng zusammengerückt seien.
       
       Es bleibt abzuwarten, ob und wie lange es bei dieser Erzählung bleibt. Seit
       Langem ist Angela Merkel innerparteilich angezählt. Zu mittig, zu liberal
       habe sie ihre Politik ausgerichtet und für gute Umfragewerte das
       konservative Profil der Union drangegeben. In der Flüchtlingsfrage habe sie
       nicht restriktiv genug gehandelt und damit „eine offene Flanke auf der
       rechten Seite“ (Horst Seehofer) in Kauf genommen. Hinzu komme ihr closed
       job als Parteichefin. Der Nachwuchs sei bei der Postenvergabe benachteiligt
       worden. Fällige interne Kritik nach der Bundestagswahl habe Merkel schlicht
       ausgesessen.
       
       Mag sein oder nicht. Eines ist klar: Das System Merkel, dieser mitunter
       sonst so geräuscharm arbeitende Mechanismus, hat einen schweren
       Getriebeschaden erlitten. Die Belastungsprobe mit mehr als einem möglichen
       Koalitionspartner hat Merkel nicht bestanden. Ob diese Fuhre wieder sicher
       auf die Schiene kommt oder ob Merkel von nun an auf Verschleiß fährt, ist
       nicht ausgemacht. Noch nicht. Der avisierte Zeitplan, Stück für Stück Macht
       abzugeben, um ab der Mitte der Legislaturperiode die Kanzlerinnen-Nachfolge
       zu regeln, dürfte von nun an nicht mehr zu halten sein.
       
       ## Gesichter wie auf einer Beerdigung
       
       „Ich als geschäftsführende Bundeskanzlerin werde alles tun, dass dieses
       Land durch diese schwierigen Wochen gut geführt wird“, hat Merkel noch in
       der Nacht mit versteinerter Miene erklärt. Hinter ihr schauten ihre
       Getreuen Ursula von der Leyen und Volker Bouffier wie auf einer Beerdigung.
       Man müsse mit den Tatsachen umgehen, sagte Merkel noch, sie werde nun den
       Bundespräsidenten informieren.
       
       Gleich am Montagmittag hat sich Angela Merkel also mit Frank-Walter
       Steinmeier (SPD) getroffen. Am frühen Nachmittag gab der Bundespräsident
       eine Erklärung ab. Er appellierte an alle Parteien, sich ihrer politischen
       Verantwortung angemessen zu verhalten. Alle Beteiligten sollten „noch
       einmal innehalten und ihre Haltung überdenken“, Verantwortung könne man
       nicht einfach an die Wähler zurückgeben. Er wolle nun Gespräche mit den
       Vorsitzenden aller an den Jamaika-Sondierungen beteiligten Parteien führen,
       „aber auch mit den Vorsitzenden von Parteien, bei denen programmatische
       Schnittmengen eine Regierungsbildung nicht ausschließen“. Ein
       überdeutlicher Wink an seine SPD.
       
       Neuwahlen oder die Möglichkeit einer Minderheitsregierung scheinen für den
       Bundespräsidenten also – noch – keine Option zu sein. Bei der CDU wurden
       die bereits terminierten Regionalkonferenzen, auf denen über einen
       möglichen Koalitionsvertrag informiert werden sollte, jedoch bereits
       abgesagt. Der Termin für den Mitte Dezember geplanten CDU-Bundesparteitag
       könnte jedoch noch gehalten werden.
       
       Sollte es in den kommenden Wochen nicht zu neuen Sondierungen – zwischen
       wem auch immer – kommen und damit Neuwahlen nicht mehr ausgeschlossen sein,
       liefe aus jetziger Sicht erneut alles auf Angela Merkel zu. Um eine neue
       Spitzenkandidatin zu installieren, bliebe nicht ausreichend Zeit; und dem
       ehrgeizigen Parteinachwuchs fehlt noch der Rückhalt aus den
       Landesverbänden.
       
       Das alles kann Angela Merkel zugutekommen. Ja, sie ist angeschlagen. Und
       nein, zum geruhsamen Nachdenken bleibt ihr sehr wenig Zeit. Aber die
       Verantwortung für die entstandene Situation liegt bei der FDP. Nicht bei
       Angela Merkels überraschend gut harmonierender Union. Und erst recht nicht
       bei den Grünen, die sogar bereit waren, in der Flüchtlingsfrage Kompromisse
       zu machen. Die Liberalen werden viel dafür tun, diese Wahrnehmung noch mal
       zu drehen. Angela Merkel hat noch viel vor.
       
       20 Nov 2017
       
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