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       # taz.de -- Meron Mendel über Antisemitismus: „Gefahr einer Gewaltspirale“
       
       > Der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank spricht über die Zusammenhänge
       > von Antisemitismus, Rassismus und Abstiegsängsten.
       
   IMG Bild: „Fass meinen Kumpel nicht an“, heißt es bei einem Protest gegen Antisemitismus und Rassismus in Frankreich 2006 (Archivbild)
       
       taz: Herr Mendel, Antisemitismus ist heute in Deutschland offiziell
       verpönt, international wird Deutschland gelobt für seine „Aufarbeitung“ der
       NS-Zeit. Wie schätzen Sie die gesellschaftliche Realität ein? 
       
       Meron Mendel: In der Tat trat Antisemitismus in Deutschland seit 1945 kaum
       noch offen zutage, weil das juristisch verboten und gesellschaftlich tabu
       ist. Zugleich belegen verschiedene Studien seit den 1950er Jahren, dass
       nach wie vor jeder Fünfte hierzulande latent antisemitisch denkt. Das kommt
       dann nicht in offiziellen Gesprächen oder in der Presse zum Ausdruck,
       sondern am Stammtisch oder in Salongesprächen.
       
       Die Leitthese Ihres Buches ist, dass der Konsens gegen Antisemitismus
       zunehmend fragiler wird. Wie kommt das? 
       
       Da sind drei Strömungen zu beobachten: In den letzten Jahren gibt es
       Tendenzen, beim Reden über Israel bestimmte antisemitischen Stereotype
       salonfähig zu machen. Es geht dabei nicht um die Kritik an der Politik
       Israels, sondern um die Relativierung des Holocaust in Bezug auf die
       heutige Politik Israels durch Vergleiche zur NS-Zeit. Oft werden alle Juden
       verantwortlich gemacht für die Politik Israels oder das Existenzrecht
       Israels wird sogar infrage gestellt. Parallel nimmt auch der sogenannte
       islamistische Antisemitismus zu. Das heißt nicht, dass Muslime in
       Deutschland antisemitischer sind als Nichtmuslime, aber ihre
       Ausdrucksformen dafür sind andere. Und als Drittes gibt es die neue Form
       von Rechtspopulismus. Der Diskurs der AfD ist stark antimuslimisch geprägt,
       aber große Teile der Partei äußern sich auch antisemitisch und relativieren
       den Holocaust – etwa über Aufforderungen, einen Schlussstrich zu setzen,
       oder nationalchauvinistische Diskurse.
       
       Ist Antisemitismus eine Spielart des Rassismus? 
       
       Antisemitismus hat eine ganz andere Geschichte als Rassismus, und nur eine
       relativ kurze Zeit des Antisemitismus ist durch Rassismus geprägt. Es gibt
       einen grundlegenden Unterschied. In der Regel betrachtet der Rassist andere
       als minderwertig: Sie sind dümmer, schmutziger und ungebildeter als seine
       eigene Gruppe. Beim Antisemitismus funktioniert das anders: Im Zentrum
       steht die Angst vor den Juden, die angeblich hinter den Kulissen alles
       beherrschen, weil sie schlauer, aber auch gefährlicher sind. Ihnen werden
       unsichtbare und unkontrollierbare Strukturen und eine Weltverschwörung
       unterstellt. Beim kolonial geprägten Rassismus geht es darum, die anderen
       zu beherrschen. Die logische Konsequenz von Antisemitismus ist Auschwitz:
       Wenn es die Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung gibt, gibt es
       keine andere Möglichkeit, als die Juden komplett aus der Welt zu tilgen.
       
       Nach dem Anschlag auf einen jüdischen Supermarkt in Paris weigerten sich
       viele muslimische Schüler sowohl in Frankreich als auch in Deutschland, an
       einer Gedenkminute teilzunehmen. Wie kann man mit solch einer Situation
       pädagogisch gut umgehen? 
       
       Es ist wichtig, genau zu schauen, wie muslimische Jugendliche solches
       Verhalten rechtfertigen: Sie fühlen sich an den Pranger gestellt, wenn es
       um islamistischen Terror geht, obwohl sie nichts damit zu tun haben.
       Deshalb müssen Lehrkräfte erst mal ganz bewusst einem Generalverdacht und
       pauschalisierenden Aussagen über Muslime und den Islam entgegenwirken. Auf
       der anderen Seite dürfen Sie nicht mit der guten Absicht der Rücksichtnahme
       und Toleranz Abstriche bei der Vermittlung von Grundwerten der Gesellschaft
       machen. Wenn muslimische Schüler sich anders verhalten, meinen viele
       Lehrer: Okay, sie sind halt anders und es gelten für sie andere Kriterien.
       Eine rassismuskritische Haltung heißt aber nicht, jedes Verhalten der von
       Rassismus Betroffenen zu akzeptieren. In solch einem Fall ist es wichtig,
       die Opferkonkurrenz zu thematisieren und zu negieren. Minderheitsgruppen
       nehmen oft wahr, wenn die Diskriminierung einer anderen Minderheitengruppe
       anerkannt wird, und erleben das dann so, dass die eigene Diskriminierung
       weniger anerkannt wird – so als ob es ein Nullsummenspiel wäre und
       Anerkennung nur für eine Gruppe möglich wäre.
       
       Wie also sieht ein kluger pädagogischer Umgang mit solch einer Situation
       aus? 
       
       Wenn ich also der Opfer des Paris-Attentats gedenke, heißt das nicht, dass
       die Diskriminierung als Muslime in Deutschland dadurch weniger anerkannt
       ist. Diese falsche Schlussfolgerung muss man brechen – und das passiert in
       unseren Gesprächen mit den Jugendlichen. Wenn man sie fragt, warum sie an
       dem Ritual nicht teilnehmen wollen, dann antworten sie vielleicht, dass der
       Opfer in Beirut auch nicht gedacht wird. Dann kann man sie auffordern,
       selbst eine Gedenkveranstaltung für die Opfer von Beirut zu organisieren.
       Das heißt aber nicht, dass sie aus der gemeinsamen gesellschaftlichen
       Pflicht befreit sind, an dem gesellschaftlichen Ritual teilzunehmen, der
       Opfer von Paris zu gedenken.
       
       In Bezug auf die AfD hört man häufig, dass man die Ängste der Leute ernst
       nehmen muss und sie eigentlich gar nicht rassistisch sind; gerade beginnt
       eine Debatte über Heimat.
       
       Die Heimat-Debatte ist die Fortsetzung einer langen Reihe von
       Ausgrenzungsdiskursen, bei denen es immer darum geht, eine Grenze zu
       ziehen: Hier sind wir – dort sind die anderen. Die anderen waren früher die
       Ausländer, jetzt sind es Muslime und wieder mal die Juden. Das wird dann
       vermischt mit den realen Ängsten der Menschen. Denn es gibt reale Ängste,
       die ernst genommen werden müssen. Aber gerade das passiert nicht durch
       solche Scheindebatten. In den USA können wir sehen, wozu es führt, wenn
       eine linke Diskussion nur noch über Political Correctness läuft und die
       Lebensumstände der Menschen, die keine Perspektive haben, übergangen
       werden. Es ist sehr wichtig, über die Spaltung der Gesellschaft zu sprechen
       und die damit zusammenhängenden Ängste ernst zu nehmen. Aber bitte ohne
       diese Reproduktion von Rassismus und Ausgrenzung. Es muss darum gehen, die
       kapitalistischen Strukturen zu benennen, die verantwortlich dafür sind,
       dass solche Prozesse stattfinden.
       
       Die Diskussion heute läuft ja auch häufig darüber, dass die Migranten
       westliche Werte gefährden und das Frauen- und Männerbild verändern.
       Außerdem wird Migranten Nachholbedarf in puncto Absage an Antisemitismus
       unterstellt. Bitte dröseln Sie die verschiedenen Schichten dieser
       Gemengelage mal auseinander. 
       
       In bestimmten migrantischen Communities gibt es nicht nur im Bezug auf
       Antisemitismus, sondern auch bezüglich Sexismus und
       Homosexuellenfeindschaft Nachholbedarf. Da darf man nicht wegschauen.
       Änderungen werden aber nicht durch die Mehrheitsgesellschaft, die im
       Übrigen auch alles andere als frei von Sexismus, Homosexuellenfeindlichkeit
       und Antisemitismus ist, in Gang gesetzt werden können, sondern es werden
       Leute aus den Communities selbst sein, die sie einleiten. Diese Leute
       müssen unterstützt werden. Zu dieser Problematik gesellt sich eine zweite
       Ebene, nämlich dass Communities als Ganze ins Abseits gestellt werden. So
       etwas nutzen Gruppierung wie die AfD aus – plötzlich kümmern sie sich sehr
       um die Rechte von Homosexuellen oder Frauen; sie nutzen das als Instrument,
       um die migrantische Community als Ganze anzugreifen.
       
       Wie kann man politisch klug mit dieser Situation umgehen? 
       
       Es ist ein sehr schmaler Grat, bei Menschenrechten keinerlei Zugeständnisse
       zu machen und zugleich der Instrumentalisierung entgegenzutreten. Wichtig
       ist, bei den einzelnen Leuten anzusetzen. Damit die Veränderungsprozesse in
       Gang setzen können, darf ihre Community nicht stark von außen unter Druck
       stehen, sondern braucht eine gewisse Gelassenheit. Aber natürlich muss man
       nicht alles akzeptieren. Wenn gewisse Einflüsse aus dem Ausland kommen,
       sollte man politisch intervenieren.
       
       Was tun? 
       
       Es gibt die große Gefahr einer Gewaltspirale. Wenn bestimmte Gruppen
       ständig die Botschaft bekommen, sie sind anders und gehören nicht dazu,
       dann entwickeln sie selbst auch so ein Bild. Die Botschaft muss sein: Alle
       gehören dazu und gleichzeitig gibt es Sachen, die mit unserem
       gesellschaftlichen Konsens nicht kompatibel sind wie die Diskriminierung
       von Frauen oder Homosexuellen und Antisemitismus.
       
       30 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Annette Jensen
       
       ## TAGS
       
   DIR antimuslimischer Rassismus
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   DIR Schwerpunkt Rassismus
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   DIR Wolfgang Gedeon
   DIR Dumme weiße Männer
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