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       # taz.de -- Kolumne Geht's noch: Rad ab
       
       > Das Bundessozialgericht sieht keinen Grund, warum Rollstuhlfahrer
       > schneller fahren sollten als Schrittgeschwindigkeit. Was?
       
   IMG Bild: Wofür stand das sozial in Bundessozialgericht noch gleich?
       
       Behinderte müssen behindert werden, sonst wären sie ja am Ende nicht mehr
       behindert. Auf dieses absurde Fazit lässt sich ein Urteil des
       Bundessozialgerichtes vom Donnerstag bringen. Die Richter kamen zu dem
       Ergebnis, dass Krankenkassen einem Rollstuhlfahrer kein sogenanntes
       Einhängefahrrad mit Elektromotor bezahlen müssen. Ihr Argument: Es sei
       nicht erkennbar, warum Rollstuhlfahrer schneller fahren sollten als
       Schrittgeschwindigkeit.
       
       Im konkreten Fall ging es um das Einhängefahrrad „Speedy Duo 2“ einer Firma
       aus Delbrück im Kreis Paderborn. Solche auch Handbike genannten Geräte
       lassen sich recht einfach vor einen Rollstuhl montieren. Das Rad wird vom
       Rollifahrer in der Regel mit einer Handkurbel betrieben – was seine
       Mobilität bereits entscheidend erhöht.
       
       Beim „Speedy Duo 2“ werden sie, ganz wie bei handelsüblichen E-Bikes, von
       einem Elektromotor unterstützt. Damit können Behinderte – je nach
       Ausführung – zehn bis 14 Stundenkilometer erreichen.
       
       Der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung hatte sich gegen
       die Aufnahme des Gerätes in das Hilfsmittelverzeichnis gewandt. Darin
       aufgelistete Produkte müssen in der Regel von den Krankenkassen bezahlt
       werden.
       
       Den Versicherungen aber war das Speedy zu schnell. Schließlich ermögliche
       es das Tempo eines Radfahrers. Zudem könne ein Behinderter das Vehikel über
       den Nahbereich hinaus nutzen. Maßstab sei aber nur die Fortbewegung eines
       nichtbehinderten Fußgängers. Dem schloss sich nun auch das
       Bundessozialgericht an.
       
       ## Mal eine leichte Steigung schaffen
       
       Dabei weiß jeder Fußgänger, dass er locker auch mal eben auf 10 bis 14
       Stundenkilometer beschleunigen kann. Nicht nur beim Joggen, sondern ganz
       alltäglich, wenn man zum Bus spurten muss. Der Unterschied: Ein Fußgänger
       steigt dann einfach in den Bus, ein Rollifahrer muss in der Regel draußen
       bleiben, weil der Bus keine Rampe hat. Oder sie kaputt ist. Der Bordstein
       zu hoch. Der Eingang zu eng. Die Mitpassagiere nicht zusammenrücken. Der
       Ausstieg an einer anderen Haltestelle unmöglich. Der Fahrer zu ungeduldig.
       Und und und.
       
       Kurz gesagt: Kein Rollstuhlfahrer wird selbst mit einem E-Bike-Antrieb
       jemals die durchschnittliche Mobilität eines Fußgängers erreichen können –
       jedenfalls nicht, solange die deutsche Realität ihn an allen Ecken und Ende
       behindert.
       
       Dank des E-Motors könnte er aber immerhin mal ein paar hundert Meter weiter
       fahren als sonst. Er könnte vielleicht sogar mal eine leichte Steigung
       schaffen, was sonst unmöglich ist. Und ja, er könnte sogar mal einem ihn
       begleitenden Fußgänger ein paar Meter davon zischen.
       
       All das gönnen die Versicherer und das Bundesgericht den Rollstuhlfahrern
       nicht. Das ist nur mit völliger Weltfremdheit zu erklären. Oder mit purem
       Zynismus.
       
       30 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gereon Asmuth
       
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