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       # taz.de -- Verfolgung von Sinti und Roma: Gestern ist heute und morgen
       
       > Am 16.12. vor 75 Jahren wurde die Deportation der Sinti und Roma nach
       > Auschwitz angeordnet. Der Höhepunkt einer Verfolgung, die bis heute
       > andauert.
       
   IMG Bild: Zwei wichtige Akteure der Roma-Bewegung: Delaine Le Bas und der verstorbene Damian Le Bas
       
       Bis zu 500.000 Roma und Sinti sind in ganz Europa dem
       nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer gefallen. Aufgrund des
       Auschwitz-Erlasses wurden an 23.000 Sinti und Roma in das sogenannte
       „Zigeunerlager“ in Auschwitz-Birkenau verschleppt, die meisten haben nicht
       überlebt.
       
       Doch wie es Zoni Weisz, der niederländische Holocaust-Überlebende, bei
       seiner Bundestagsrede 2011 am Gedenktag für die Opfer von
       Nationalsozialismus auf den Punkt brachte: „Sind die Opferzahlen
       ausschlaggebend für die Aufmerksamkeit, die einem zuteil wird, oder ist das
       Leid eines einzelnen Menschen wichtig?“
       
       Die Familie von Zoni Weisz wurde im Mai 1944 in das Vernichtungslager
       deportiert. Seine Mutter, seine zwei Schwestern und sein Bruder wurden in
       der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 gemeinsam mit knapp 3.000 weiteren
       Sinti und Roma vergast. Sein Vater kam in Mittelbau-Dora ums Leben.
       
       ## Die Opfer
       
       Im gleichen Zug mit seinen Eltern, Schwestern und seinem Bruder saß auch
       Settela Steinbach, das neunjährige Sinti-Mädchen, dessen verängstigter
       Gesichtsausdruck im Viehwaggon kurz vor dem Verlassen des Bahnhofs in einer
       sieben Sekunden dauernden Filmsequenz aufgenommen wurde – das weltweit
       bekannte Gesicht des Holocaust. Auch sie wurde am 2. August vergast.
       
       Da war aber auch Erna Lauenburger, die mit einem der allerersten Transporte
       bereits im März 1943 nach Auschwitz-Birkenau kam. Unter ihrem Spitznamen
       Unku prägte sie die Kindheit vieler Kinder als Heldin des
       Kinderbuchklassikers „Ede und Unku“.
       
       Da war die Familie Höllenreiner, deren Angehörige im Mai 1944 den
       erfolgreichen Widerstand gegen die Auflösung des Lagers organisierten und
       damit 3.000 Leben retten konnten. Die Brüder Mano und Hugo Höllenreiner
       sind als Überlebende ein wichtiger Teil der Erinnerungskultur. Hugo
       verstarb im Jahr 2015, Mano reist bis heute durch Europa und spricht über
       die grauenvollen Erinnerungen an verschiedene Vernichtungslager und den
       Todesmarsch.
       
       Da waren die 39 Sinti-Kinder aus dem Kinderheim St. Josefspflege in
       Mulfingen, die erst etwas später als andere nach Auschwitz verschleppt
       wurden, weil sie vorher der „Rasseforscherin“ Eva Justin zur Erlangung
       ihres Doktortitels gedient hatten, bevor ihr Leben grauenvoll beendet
       wurde.
       
       ## Fast jede Familie hat Geliebte verloren
       
       Doch hier geht es nicht um Justins, Ritters oder Mengeles. Es ist schlimm
       genug, dass selbst die Chronologie am Denkmal für die im
       Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas aus einer fast reiner
       Täterperspektive geschrieben wurde. Sie soll erst im kommenden Jahr durch
       eine Dauerausstellung ergänzt werden, in der auch die Betroffenen selbst zu
       Wort kommen.
       
       Die Liste der Namen und Geschichten könnte unendlich lang sein. Fast jede
       Roma- oder Sinti-Familie in Europa hat ihre Angehörigen verloren. Doch wie
       lange wurden sie ignoriert und verschwiegen? Wie oft mussten die
       Überlebenden ihren Peinigern, die auch lange Jahre nach dem Krieg in den
       gleichen Ämtern saßen, wiederbegegnen?
       
       So betrieben die sogenannten „Landfahrerzentralen“ unter der Leitung von
       Josef Eichberger, dem Hauptorganisator der Massendeportationen von Sinti
       und Roma, nicht nur die Totalerfassung der überlebenden Sinti und Roma
       mittels der NS-Akten und polizeilicher Razzien, sondern sie führten auch
       insbesondere in der polizeilichen Ausbildung rassistisches Denken weiter –
       vorgetragen durch ehemaliger „Zigeunerexperten“ und „Rassehygieniker“. Der
       Völkermord an den Sinti und Roma wurde erst 1982 vom damaligen Kanzler
       Helmut Schmidt anerkannt. Es dauerte lange Jahre, bis die Welt erfuhr, dass
       Settela Steinbach eine Sinteza war, keine Jüdin. Das Wort „Sinteza“ wird
       von der automatischen Rechtsschreibprüfung als nicht existent
       unterstrichen. Das Denkmal für Sinti und Roma wurde erst 2012
       fertiggestellt.
       
       ## Und nun, Frau Merkel?
       
       Bei unseren Nachbarn jedoch steht am Ort eines Todeslagers für Roma im
       südböhmischen Lety auch im Jahr 2017 immer noch eine Schweinemastanlage.
       Mit den Worten von Zoni Weisz: „Nichts oder fast nichts hat die
       Gesellschaft daraus gelernt, sonst würde sie heute verantwortungsvoller mit
       uns umgehen.“ Im heutigen Deutschland darf die Rede vom „Denkmal der
       Schande“ sein, das „Nie wieder!“ wurde spätestens mit dem Bundestagseinzug
       der AfD obsolet.
       
       Wo ist Frau Merkels „Wir schaffen das!“? Bei der Einweihung des Denkmals
       hat sie die Menschenwürde und das Grundgesetz hoch und runter beschworen.
       Doch das Einzige, was Frau Merkel geschafft hat, war die Balkanländer zu
       sicheren Herkunftsstaaten auszurufen. Für Roma leider nur auf dem Papier.
       Somit hat sie wieder die Grundlage für die Abschiebung vieler Roma
       geschaffen, die in Folge der Balkankriege vertrieben wurden und nun bereits
       in zweiter Generation in Deutschland leben.
       
       ## Wir brauchen keine Integration
       
       Für den Rassismus der Rassisten wird auch in Deutschland weiterhin den Roma
       selbst die Schuld gegeben. Wir werden in den Medien, in Polizeimeldungen
       und Kinderfilmen immer noch als die Fremden, die Wilden, die
       Nichtdazugehörenden stigmatisiert. Die lebensbedrohliche Armut, in die
       viele Roma europaweit durch soziale Ausgrenzung gezwungen werden, wird als
       Folge mangelnder Integration oder gar als Teil unserer „Kultur“ gedeutet.
       
       Man hat versucht, uns zu vernichten. Jetzt versucht man, uns zu
       integrieren. In eine Gesellschaft, in der wir seit Jahrhunderten leben. Wie
       wird Höcke integriert? Wahrscheinlich dadurch, dass er kein
       Ausschlussverfahren kriegt, aus seiner rechtsradikalen Partei.
       
       Wir brauchen keine Integration, wir brauchen Vorbilder. Zeugen des
       Völkermords sowie Zeugen unserer Zeit. Staatlich geordnete
       Erinnerungskultur ist wichtig, heutzutage vielleicht sogar existenziell.
       Und dennoch brauchen wir alle einen persönlichen Bezug, durch den die
       Vergangenheit und die Gegenwart greifbar werden.
       
       ## Der große Künstler Damian Le Bas, zu früh verstorben
       
       Für mich und viele andere war der britische Künstler Damian Le Bas einer
       der größten Zeugen unserer Zeit und ein wichtiges Vorbild. Aus Liebe zu
       Menschen hat er sich tagtäglich in seiner Kunst auf einer nie dagewesenen
       Art und Weise mit der Realität auseinandergesetzt. Zusammen mit seiner Frau
       Delaine Le Bas gestaltete er Sperrholzhütten zum „Safe European Home?“, zu
       dadaistischen Collagen, zu einem erschütternden Bericht über die Lage von
       Roma in Europa. Er ist der Erfinder von „Gypsyland“, das er aus jeder
       Stadt- und Landkarte herzaubern konnte. Er war der erste, der
       Roma-Superhelden in seiner Kunst wahrnahm. Die Superheroes sind Teil des
       Theaterstücks [1][„Roma Armee“] von Yael Ronen am Maxim-Gorki-Theater in
       Berlin, zu dem Damian und Delaine das Bühnenbild und die Kostüme geschaffen
       haben.
       
       Er war einer der wenigen, die 2007 beim ersten Roma-Pavillon bei der 52.
       Venedig-Biennale dabei waren. Er war ein großartiger Mensch, eine
       Kindesseele, ein Bruder. Nächstes Jahr sollte er die erste weltweite
       Roma-Biennale in Berlin mitkuratieren.
       
       ## Der Schmerz ist nicht messbar
       
       Doch Damian Le Bas ist letzte Woche viel zu früh im Alter von 54 Jahren von
       uns gegangen. Natürlich ist es ein Unterschied, ob Menschen in Gaskammern
       ermordet wurden, oder friedlich im Bett eingeschlafen sind. Doch der
       persönliche Schmerz ist nicht messbar. Es ist nicht möglich, ohne Weiteres
       einfach weiterzuleben.
       
       Nun ist es an uns, sein Erbe weiterzutragen. Er hätte sich sicherlich
       gewünscht, dass wir noch stärker unsere Kräfte bündeln und nach außen
       richten. Dass wir unsere Geschichte annehmen und nach vorne blicken. Dass
       wir neue Geschichten erzählen, denn all unsere Geschichten handeln von der
       Vergangenheit. Dass wir unermüdlich durch Kunst, Politik und im Alltag
       dafür kämpfen, dass Europa irgendwann tatsächlich ein sicheres Zuhause für
       Roma wird.
       
       Und vielleicht ist der 75. Jahrestag des Auschwitz-Erlasses der richtige
       Tag, um damit zu beginnen.
       
       15 Dec 2017
       
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