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       # taz.de -- Die Wahrheit: Putin und die Trällertruppen
       
       > Die Generalprobe für die Fußballweltmeisterschaft 2018 – ein
       > internationaler Chorwettbewerb im vorweihnachtlichen Russland.
       
       Musik, Gesang, Jubel, Trubel, Heiserkeit – ganz Moskau, vom Kreml bis in
       die kleinste Hütte, ist erfüllt vom Klang der Chöre. Es brummt und summt in
       allen Ecken und Winkeln. Belcanto und Oper verzaubern das schneebedeckte,
       vorweihnachtliche Russland. Ach, wäre die Welt doch überall so heimelig …
       
       Im kommenden Jahr findet in Russland die 21. Fußballweltmeisterschaft
       statt. Als Generalprobe für dieses Weltereignis 2018 erfüllt der russische
       Präsident Wladimir Wladimirowitsch Putin sich und der Menschheit einen
       Herzenswunsch: ein internationales Chorfestival vor Weihnachten.
       
       Schon die Eröffnung am gestrigen Freitag bot den ersten Leckerbissen für
       alle Freunde des mehrstimmigen Gesangs. Präsident Putin höchstselbst ließ
       es sich nicht nehmen, das internationale Großereignis zu eröffnen.
       Begleitet von „Don“ Giovanni Adultino, dem Generalsekretär des
       Welt-Musikverbands PFIFA, stand der leutselige und kunstsinnige Diktator
       zunächst der internationalen Presse Rede und Antwort. Schlagfertig parierte
       er die vorwitzige Frage, ob die mit viel Pomp präsentierte Chor-WM eine
       willkommene Ablenkung von der Besetzung der Krim sei. Putin ließ den
       Reporter wissen, er werde ihm nachher unter vier Augen zur Verfügung stehen
       – und zwar so gründlich, dass keine Fragen mehr offenblieben. Und
       tatsächlich scheint der Kollege zufrieden heimgereist zu sein – auf den mit
       rotem Zarinnen-Samt gepolsterten Presseplätzen ward er jedenfalls nicht
       mehr gesehen.
       
       Der Ort der Eröffnungsfeier, die Aula der Schule Nr. 22 Eugen Onegin in
       Smolensk, ist vor dem Sängerturnier aufwendig saniert worden. Dass das Dach
       nicht ganz fertig geworden ist, lächelt der Präsident gekonnt weg, als er
       mit nacktem Oberkörper auf der romantisch verschneiten Bühne steht und in
       einem vierstimmigen Solo das großrussische Volkslied „Moskauer Mächte“ zum
       Besten gibt. Dennoch ist angesichts der Minusgrade im Saal unter einigen
       Teilnehmern ein kurzes Murren zu vernehmen. Viele Duelle werden wohl zur
       Zitterpartie.
       
       Für einen geordneten Turnierverlauf sorgt die von Dimitri Bolinski
       geleitete „Schiri“ (Russisch für Jury): ein orthodoxer Priester, ein
       Schwager Baschar al-Assads, Viktor Janukowitsch, der bekannte Opernfreund
       Gerhard Schröder und Herzogin Beatrix von Oldenburg, in Musikkennerkreisen
       wegen ihres herrlichen Rhythmusgefühls auch „Der Storch von Berlin“
       genannt.
       
       ## Sänger aus aller Welt trotzen widrigen Wetterverhältnissen
       
       Trotz der widrigen Wetterverhältnisse haben die internationalen Favoriten
       ihre besten Sänger und Chöre geschickt. Sympathisch wie immer die
       Skandinavier: Die Schweden pflegen eher einen Sprechgesang; die Isländer
       mit ihrem „Huh!“ machen sogar den Russen Angst; und Dänemark schickt den
       Käpt’n-Iglu-Chor mit „Paa-naa-dee – olé!“.
       
       Bei den Briten singen die mitgereisten Fans besser als der Chor. Die
       Mexikaner kommen gerade von der Tekieler Woche und können noch nicht wieder
       stehen. Aber singen. Argentinien setzt bei allen Auftritten nur auf den
       Messias und das „Händel Gottes“. Ägypten überrascht bei heftigem
       Schneetreiben mit dem Sommerhit „Unser Meer ist nasser“, während
       Saudi-Arabien im brisanten Golfduell den Waha-Beat präsentiert, was der
       Iran gekonnt mit „Persischer Wein“ (nach Udo Jürgens) kontert.
       
       Der starken internationalen Konkurrenz setzt Russland aber neben der Jury
       auch eigene Trällertruppen entgegen. So bringen die Taiga-Täubchen, der
       Chor der früheren Frauen-Leichtathletik-Nationalmannschaft der UdSSR, die
       berühmte Bassarie des Sarastro aus der „Zauberflöte“. Für Rührung sorgen
       die Kaliningrader Klöpse, ein Kinderchor, der „Krieg und ein bisschen
       Frieden“ von Nicole Tolstoiewa zum Besten gibt.
       
       Nur geringe Chancen werden den Sibirischen Wodkadrosseln eingeräumt.
       Dagegen ist der Rapper-Chor Kalaschnikow, begleitet auf der Stalinorgel,
       ebenso ein persönlicher Favorit des Präsidenten wie das
       Tschekowski-Ensemble der Geheimpolizei mit dem berühmten Terroristenchor
       aus „Nabucco Nabukowitsch“.
       
       Leider ergeben sich für die internationale Konkurrenz immer wieder neue
       Probleme: So sind die Wege zu den Bühnen nur in Kyrillisch ausgeschildert;
       mehrere Favoriten müssen so wegen Verspätung disqualifiziert werden. Die
       Sängerinnen aus Costa Rica und aus Uruguay sind zwar pünktlich, scheitern
       aber an ihren Nerven, als russische Hooligans absichtlich falsch mitbrummen
       und mit zusammengeknüllten Notenblättern werfen.
       
       Im Achtelfinale kommt es zum Kanalduell Panamas („Du kommst hier nicht
       durch“) gegen England („Bemble in The Wind“ von Heinz Schenk und Elton
       John). Allerdings werden beide disqualifiziert, weil plötzlich schlechtes
       und verspätetes Playback eingespielt wird. Und die Brasilianer sitzen vor
       dem Duell mit Deutschland alle heulend auf dem Damenklo.
       
       Im Viertelfinale wird die Schweizer Darbietung „Wilhelm Tell, der
       Freiheitsheld“ nach zwanzig Sekunden wegen „ukrainischer Propaganda“ von
       bewaffneten Heimatschützern von der Bühne geholt. Im anderen Viertelfinale
       gegen Nigeria setzt sich im Elftonleitersingen bis zum ersten Fehler die
       bessere medizinische Betreuung der Russen durch: Die Rachenmandeln aller
       Sänger waren bereits Monate vor dem Turnier durch Antibiotika-Tabletten
       ersetzt worden, und bei Heiserkeit sind sofort Lutschbonbons der Marke
       „Moskovskaya“ (40 Prozent) zur Hand.
       
       ## Die Journalisten werden überzeugt, weiterzuberichten
       
       Anwesende Journalisten, die zu diesem Zeitpunkt die Berichterstattung
       abbrechen wollen, werden von Moskau Inkasso überzeugt, weiterzumachen.
       Einheimische Kollegen fassen investigativ nach: „Bedrohen die Schweiz und
       die westliche Presse nicht den internationalen Frieden? Und darf ich heute
       wieder in der Präsidentenmaschine mitfliegen?“
       
       Apropos Präsidentenmaschine: Der Unterstufenchor des Gymnasiums Nr. 6
       Gornostaj in Wladiwostok erreicht das Finale kampflos, weil das polnische
       Flugzeug auf dem Weg zum Halbfinale abstürzt. Und auch das Finale geht ohne
       jeden Widerstand an die Russen, weil im Hotel des Überraschungsfinalisten
       Ägypten „zufällig“ die Heizung nicht geht, sodass die Sänger alle am
       Gebetsteppich festfrieren. Vor allem aber siegt Russland, weil der große
       Wladimir Wladimirowitsch Putin sich bereitwillig einreiht in den Knabenchor
       und ihm mit seiner kräftigen Tigerstimme den verdienten Sieg beschert.
       Nicht nur Moskau jubelt in der von glitzernden Raketen erleuchteten Nacht
       auf dem Roten Platz.
       
       Ein wahres Fest der Musik ist zu Ende gegangen. Die Strapazen für Künstler
       und Zuhörer waren erheblich – getreu der alten Weisheit von Sepp Herberger:
       „Ein Lied dauert 90 Minuten.“ Eben ein echtes russisches Wintermärchen.
       
       16 Dec 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Oliver Domzalski
       
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