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       # taz.de -- Graphic Novel „Brodecks Bericht“: Dunkle Seelen im Dorfe
       
       > Manu Larcenet übersetzt Philippe Claudels Roman über einen von einer
       > Dorfgemeinschaft begangenen Mord überzeugend in die Graphic Novel.
       
   IMG Bild: In langen Passagen erzeugt der Comiczeichner Manu Larcenet die Stimmungen in „Brodecks Bericht“ allein mittels Bildern.
       
       Vor zehn Jahren erschien in Frankreich ein Buch, das durch seine
       ungeheuerliche Geschichte zu fesseln verstand. Ein Bewohner eines
       abgelegenen Dorfes erzählt darin von einem Ereignis kurz nach dem letzten
       Krieg, von einem Mord, an dem sich fast die ganze Dorfgemeinschaft
       beteiligte.
       
       Das Opfer ist ein Maler, der sich eine Weile im Dorf niederließ und vor
       allem durch seine Freundlichkeit auffiel. Und doch empfanden die Bewohner
       zunehmend ein Unwohlsein, wenn sie dem „Anderen“ begegneten, weil er sehr
       schweigsam war und sie zu beobachten schien. Was letztlich zum Mord führte.
       
       Der Erzähler, Brodeck, war nicht an der Tat beteiligt. Er betritt zufällig
       am Abend danach die Gaststätte, in der sich die Täter versammeln. Als
       schreibender Naturkundler bekannt, wird er angewiesen, eine Chronik zu
       verfassen, die die Ereignisse und Zusammenhänge nüchtern darstellen soll,
       um die Tat „verständlich“ zu machen. Selbst ein Außenseiter, fügt sich
       Brodeck, um nicht zum nächsten Opfer zu werden.
       
       Doch er verfasst einen zweiten Bericht, in dem er seine eigenen Gedanken zu
       den Verhältnissen im Dorf darlegt und der die Vorgeschichte, die Ereignisse
       im Krieg, mit einbezieht. Philippe Claudel heißt der Autor von „Brodecks
       Bericht“ (auf Deutsch 2009 bei Rowohlt erschienen), der seine Leser von der
       ersten Seite an vor allem durch die Subjektivität seiner Erzählerstimme in
       die beklemmende Geschichte hineinzieht.
       
       Obwohl Claudel zeitliche und örtliche Umstände bewusst ausspart, wird klar,
       dass sich die Ereignisse kurz nach dem Zweiten Weltkrieg abspielen, wohl im
       Elsass oder in Lothringen, wo der Autor auch herstammt. Es ist keine
       authentische Geschichte – Claudel ist erst 1962 geboren –, jedoch wird sie
       derart lebensnah und dicht erzählt, dass vorstellbar ist, dass sie so
       ähnlich wirklich stattgefunden haben könnte.
       
       Die immer wieder von Brodeck albtraumhaft erinnerten Geschehnisse im
       „Lager“ erinnern etwa an Gräuel, die zwischen 1940 und 1944 in zwei
       elsässischen Lagern, dem Zwangslager Schirmeck-Vorbruck sowie im nahe
       gelegenen KZ Natzweiler-Struthof, tatsächlich stattfanden.
       
       Nun hat sich ein Landsmann, der 1969 geborene Comiczeichner Manu Larcenet,
       daran gewagt, diesen von der Kritik sehr gelobten Roman in eine 300 Seiten
       starke Graphic Novel zu übertragen. Ein heikles Unterfangen, muss es ihm
       doch gelingen, die Eindringlichkeit des Erzähltons durch Bilder zu
       erreichen. Manu Larcenet hat bereits mehrere Comics dem ländlichen
       Frankreich gewidmet (humoristisch in „Die Rückkehr aufs Land“, ernsthaft in
       „Der alltägliche Kampf“) und in seiner vierbändigen Charakterstudie „Blast“
       der Natur gar eine Hauptrolle beigemessen.
       
       Da die Erzählerstimme unverzichtbar ist, verwendet er große Textteile aus
       dem Roman, legt aber auch viel Wert auf Stimmungen, die er in langen
       Passagen allein mittels Bilder erzeugt. Durchgängig in kontrastreichem
       Schwarz-Weiß, mit feiner Tusche gezeichnet, übertrifft Larcenet sogar die
       ästhetische Dichte von „Blast“ und setzt da lyrische Akzente, wo die
       Düsternis der Handlung die Geschichte zu erdrücken droht. Die Figuren,
       Hintergründe und Requisiten sind oft als Schattenrisse angelegt, die Züge
       der einzelnen Charaktere im Schwarz nur erahnbar.
       
       Solche Stilmittel verleihen dem Buch eine belastende Schwere, die zum Thema
       passt. Denn die Dorfbewohner haben sich bereits früher schuldig gemacht:
       während des Krieges, als sie einige „Fremde“ – nämlich Zugezogene, die
       nicht zur engeren Gemeinschaft gerechnet wurden – an die Besatzer (Brodeck
       nennt sie „Fratergekeime“) verrieten, die sie in ein Lager deportierten,
       folterten oder ermordeten.
       
       Die immer wieder aus Brodecks Erinnerung auftauchende Lager-Sequenzen (das
       Ungeheuerliche belegt er mit dem Namen „Kazerskwir“) werden durch
       Stacheldraht-Panels vom übrigen Comic abgegrenzt. Sämtliche Soldaten der
       fremden Macht zeichnet Larcenet als unförmige wie unmenschliche Bestien,
       was durch ihr Verhalten plausibel erscheint.
       
       Der Zeichner weicht dezent von der Vorlage ab, wenn er alle konkreten
       Hinweise auf die Epoche und den Stand der Technik vermeidet, um stattdessen
       eine überzeitliche Atmosphäre zu erzeugen, die immer noch die Konnotation
       zum Zweiten Weltkrieg (und zum Holocaust) möglich macht. Ein derartiges
       kollektives menschliches Versagen hätte sich auch vor 200 Jahren in einem
       anderen Kontext abspielen können.
       
       Damit betont Larcenet den allegorischen Ansatz von Claudels Roman und
       erschafft so eine zeitlose Parabel auf den Krieg, der nur Grauen und
       Unmenschlichkeit hervorbringt. Manu Larcenets meisterhafte grafische
       Adaption schlägt den Leser ebenso in den Bann wie die Vorlage und hält die
       Spannung, die am Ende mit einigen Überraschungen und Enthüllungen
       aufwartet.
       
       25 Dec 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralph Trommer
       
       ## TAGS
       
   DIR Französischer Comic
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