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       # taz.de -- Alkoholismus in der Familie: Eine verkehrte Welt
       
       > Wenn ein Elternteil süchtig ist, wirkt sich das auf die ganze Familie
       > aus. Kinder verstehen oft erst Jahre später, was eigentlich passiert ist.
       
   IMG Bild: Alkohol organisieren, auskurieren, verheimlichen: Alkoholkranke sind viel mit sich selbst beschäftigt
       
       Wann hat das angefangen? Diese Frage ließ Dominik Schottner nicht mehr los,
       als sein Vater im Dezember 2014 an den Folgen seines Alkoholkonsums starb.
       Der 36-Jährige weiß nicht mehr, wann genau er begriffen hat, dass sein
       Vater ein Alkoholproblem hat. In den letzten Lebensjahren war es nicht mehr
       zu übersehen, aber davor? Gab es irgendwelche Hinweise auf die
       Abhängigkeit? Nach dem Tod des Vaters beginnt der Journalist jedenfalls, in
       dessen Umfeld nachzuspüren. Und begreift, dass sein Vater schon lange viel
       getrunken hat, zu viel.
       
       Im Lichte seiner Recherche beginnt Dominik Schottner sich zu erinnern.
       Momente aus seiner Kindheit in einer Reihenhaussiedlung im Speckgürtel von
       München, eigentlich eine „sehr schöne, behütete Kindheit“, sagt Schottner.
       Der Abend, an dem sein Vater im Streit mit seiner Mutter seinen Aktenkoffer
       voller Wut auf den Esstisch knallt. „Ich konnte das damals nicht zuordnen,
       ich dachte, so ist mein Vater einfach“, erzählt Schottner. Er sitzt in
       seinem Büro in einem Coworking-Space in Berlin-Neukölln. „Ich habe schon
       gemerkt, dass er sehr aufbrausend war, aber ich konnte das damals gar nicht
       in Verbindung mit Alkohol bringen.“
       
       Auch was in den Jahren darauf folgte, die Scheidung seiner Eltern, die
       Wutausbrüche seines Vaters, die Distanz zwischen seinem Vater und ihm,
       verstand er als damals zehnjähriges Kind nicht. „Gleichzeitig ist es gar
       nicht so verwunderlich, dass ich es nicht verstanden habe, weil andere, die
       viel näher an ihm dran waren, es auch nicht verstanden haben“, sagt er.
       
       Dominik Schottner hat ein Buch über den Alkoholismus seines Vaters
       geschrieben, weil ihm klar wurde, dass seine Geschichte eine von vielen
       ist. Alkohol ist eine gesellschaftlich legitimierte Droge. Laut dem
       aktuellen vom Deutschen Krebsforschungszentrum herausgegebenen Alkoholatlas
       trinken nur drei Prozent der Erwachsenen keinen Alkohol.
       
       In Deutschland starben 2015 mehr als 20.000 Menschen an den Folgen des
       Konsums. Im Jahr 2012 waren rund 1,7 Millionen der 18- bis 59-Jährigen
       alkoholabhängig. Hinter ihnen stehen Angehörige, auf deren Leben sich der
       Alkoholismus ebenfalls auswirkt. Etwa 2,6 Millionen Kinder, schätzt das
       Krebsforschungszentrum, haben mindestens einen alkoholkranken Elternteil.
       Dazu kommen schätzungsweise 6 Millionen Erwachsene, die als Kinder in
       süchtigen Familien aufwuchsen.
       
       ## Alkoholprobleme werden häufig geheimgehalten
       
       „Kinder aus suchtbelasteten Familien wachsen in einem Zustand von ständiger
       Anspannung auf und versuchen wie Seismografen die volatile Stimmung ihrer
       Eltern in Balance zu halten“, sagt der Projektkoordinator und Mitgründer
       des Vereins NACOA in Berlin, Henning Mielke. Der Verein vertritt die
       Interessen von Kindern aus Suchtfamilien.
       
       Die Gedanken der Eltern kreisten in Suchtfamilien ständig um den Alkohol,
       sagt Mielke, den Kindern fehle es häufig an der emotionalen Verfügbarkeit
       ihrer Eltern. „Das Kind kann das nicht verstehen, es wird immer meinen, es
       selbst sei die Ursache für die Probleme“, sagt er. Dass Kinder wie Dominik
       Schottner erst im Erwachsenenalter begreifen, welche Folgen Alkohol für sie
       und ihre Familie hatte, ist laut Mielke nicht verwunderlich. In der Familie
       werde häufig geheimgehalten, dass es ein Alkoholproblem gibt – nicht nur
       nach außen, sondern auch vor den Kindern. „Das ist eine schleichende
       Krankheit, die ganz lange unter der Oberfläche gehalten werden kann“,
       erklärt er.
       
       Auch Anna Schultz, ähnlich behütet aufgewachsen wie Dominik Schottner in
       einem Vorort von Stuttgart, verstand als Kind nicht, was mit ihrem Vater
       los war. Viele in dem kleinen Vorort wissen das bis heute nicht. Damit
       keine Rückschlüsse auf ihren Vater gezogen werden können, steht in diesem
       Text nicht ihr echter Name. „Als Kind habe ich nur mitbekommen: Abends kann
       man mit dem Papa viel mehr anfangen, da ist er viel lustiger und
       emotionaler“, erzählt sie und fügt ironisch hinzu: „Blöd nur, dass er es am
       nächsten Tag nicht mehr weiß.“
       
       Sie habe ein ständig unsicheres Verhältnis zu ihrem Vater entwickelt, sagt
       die 27-Jährige. „Heute weiß ich, dass die Aussagen, die im Rausch getroffen
       werden, überhaupt nicht zuverlässig sind. Aber damals wusste ich nie, wer
       der wirkliche Papa ist: Ist es der, der rumgrummelt, oder der, der abends
       sagt, wie lieb er mich hat?“
       
       Schlagartig erwachsen wird Anna Schultz mit 14 Jahren, als sie merkt, wie
       sehr ihre Mutter die Abhängigkeit ihres Vaters belastet. „Ich kam ganz
       schnell in die Rolle, dass ich ihr helfen wollte, weil ich das Gefühl
       hatte, dass sie Verstärkung braucht“, erinnert sich Schultz. Die Teenagerin
       wird zur Ansprechpartnerin ihrer Mutter und kämpft mit ihr gegen das
       Alkoholproblem ihres Vaters an. Was dabei häufig aus dem Blick geriet, war
       die Frage, wie es ihr eigentlich ging. „Wenn man es ganz rational sieht,
       nimmt man einem Kind einfach die Möglichkeit zu rebellieren. Wie sollst du
       dich in einem Haus selber finden, wenn alles andere schon so wackelt?“,
       sagt sie.
       
       Kinder aus Suchtfamilien werden oft viel zu schnell erwachsen; ihre
       Kindheit endet abrupt, wenn sie Teil des Netzwerkes um einen
       alkoholabhängigen Elternteil werden. Sie müssten oft schon früh viel
       Verantwortung übernehmen, sagt Mielke. „Sie leben als Kinder wie kleine
       Erwachsene, weil sie sich um die Bedürfnisse ihrer Eltern kümmern. Das ist
       eine verkehrte Welt“, erklärt er. Die Kinder schlüpfen in die Elternrolle,
       weil die Eltern Hilfe brauchen – obwohl sie selbst hilfsbedürftig sind. Die
       Psychologie nennt das Parentifizierung.
       
       ## Der Blick zurück
       
       Irgendwann hat Anna Schultz gemerkt, dass die Rolle der Retterin ungesund
       für sie ist. Eine Doppelbelastung, die sie davon abhielt, ihre Ziele zu
       verfolgen. „Ich habe ein paar tolle Praktika abgesagt, weil ich das Gefühl
       hatte, ich kann nicht aus der Stadt weg. Ich wusste nicht, ob hier dann
       alles zusammenfällt“, sagt sie. Sie beginnt sich abzugrenzen. „Das ist
       natürlich ein ganz großer Schritt, zu sagen: Ja, dann fall. Dann fall
       alleine. Es klingt unfassbar grausam, aber ich glaube tatsächlich, dass ich
       das nicht verhindern könnte.“
       
       Heute blickt sie ohne Groll zurück. Durch das Aufwachsen in einer
       „Problemkonstellation“, wie sie es nennt, habe sie eine Resistenz gegenüber
       schwierigen Situationen entwickelt. Die Fähigkeit, Strukturen zu erkennen
       und Probleme zu lösen. Der weiche Boden, der Vater, den man anrufen kann,
       wenn man in der Patsche sitzt, fehle ihr. „Ich glaube, dass diese Rolle mir
       ganz viel Positives gebracht hat. Aber gleichzeitig hat sie mir natürlich
       verwehrt, schwach zu sein“, sagt sie sachlich.
       
       Dominik Schottner ist wütend auf seinen Vater. Weil der keine Hilfe von den
       Menschen um ihn herum angenommen hat. Weil es nicht gereicht hat, dass er
       zwei Kinder und einen Enkel hatte, um am Leben zu bleiben. Weil er seine
       Kinder im Stich gelassen hat. „Ich werfe ihm das vor, aber er war ja auch
       schon vorher nicht für mich da“, sagt er. Sein Vater zog nach der Trennung
       von seiner Frau aus; in der Pubertät, als Schottner ihn gebraucht hätte,
       ist er nicht da. „Da spielt der Alkohol schon eine Rolle, weil du dein
       Leben darauf ausrichtest, diesen Stoff zu bekommen. Du organisierst dein
       Leben um die Stoffbeschaffung, das Auskurieren der Folgen, das
       Verheimlichen“, sagt Schottner.
       
       Wirklich nah kommt er seinem Vater erst Jahre später, als sie sich zum
       ersten Mal zusammen betrinken. Ein Urlaub in Mallorca im Herbst 2012, da
       weiß Schottner schon, dass sein Vater alkoholabhängig ist, und sein Vater,
       dass er es weiß. Nach etlichen Bieren fängt sein Vater an zu weinen und
       schüttet Schottner sein Herz aus.
       
       Die Rollen drehen sich um, aber inzwischen ist Schottner erwachsen und kann
       damit umgehen. „Ich bin für diesen Abend sehr dankbar. Gleichzeitig weiß
       ich, dass es total unverantwortlich war“, sagt er und fügt hinzu: „Aber es
       hat uns ein ganzes Stück näher zusammengebracht, weil wir die vielen Jahre
       der Sprachlosigkeit beendet haben.“ So nah wie an diesem Abend sei er
       seinem Vater selten gewesen.
       
       3 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Elisabeth Kimmerle
       
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