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       # taz.de -- „Werbung“ für Abtreibungen: Tausende fordern Ende des Paragrafen
       
       > Die verurteilte Ärztin Kristina Hänel hat mehr als 150.000 Unterschriften
       > an SPD, Grüne, Linke und FDP übergeben. Die wollen Paragraf 219a kippen.
       
   IMG Bild: Kristina Hänel (Mitte) überreicht ihre Unterschriften an Bundestagsabgeordnete; darunter Eva Högl (SPD), Katja Kipping (Linke), Renate Künast (Grüne), und Stephan Thomae (FDP)
       
       BERLIN taz | Eisiger Wind pfeift, als die Gießener Ärztin Kristina Hänel am
       Dienstagmorgen vor dem Reichstagsgebäude das Wort ergreift. „Ich will das
       Informationsrecht für Frauen zum Schwangerschaftsabbruch“, ruft sie. Dann
       überreichen sie und ihre Unterstützer*innen die [1][mehr als 150.000
       Unterschriften], die ihre Petition in den vergangenen Wochen erhalten hat,
       an [2][Abgeordnete von SPD, Grünen, Linken und FDP]. „Ab jetzt ist es Sache
       der Politik, daraus etwas Gutes zu machen“, sagt Hänel. Was sie meint:
       Paragraf 219a Strafgesetzbuch, der das Werben für den Abbruch der
       Schwangerschaft verbietet – und damit auch sachliche Information – soll
       weg.
       
       Die Politik hat den Ruf gehört. „Paragraf 219a muss gestrichen werden“,
       sagt Eva Högl, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD. Einen
       entsprechender Gesetzentwurf habe ihre Fraktion am Montag beschlossen. In
       der Hand hält Högl eine der Boxen mit den Unterschriften, für ihre Partei
       mit einem roten Etikett bedruckt. Neben ihr stehen ihre Kolleg*innen Ulle
       Schauws und Renate Künast von den Grünen, Cornelia Möhring und Katja
       Kipping von der Linken und Katja Suding und Stefan Thomae von der FDP –
       jeweils mit einer Box in der Farbe ihrer Fraktion. Nur die zwei schwarzen
       Kisten für die Union stehen unberührt in der Mitte.
       
       Hänel hatte ihre Petition gestartet, nachdem sie von
       Abtreibungsgegner*innen nach Paragraf 219a angezeigt wurde. Denn auf ihrer
       Webseite steht, dass sie Abtreibungen durchführt – auch diese sachliche
       Information fällt nach aktueller Rechtslage unter den Paragrafen 219a StGB.
       Am 24. November wurde sie vom Gießener Amtsgericht [3][zu einer Geldstrafe
       von 6.000 Euro verurteilt]. Sie will Rechtsmittel einlegen; und wenn nötig
       [4][bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen].
       
       Eine Situation, die nicht nur den 152.140 Petitionsunterzeichner*innen
       unzumutbar erscheint. Alle anwesenden Politiker*innen sehen den Gesetzgeber
       in der Pflicht. „Wir sprechen uns für eine Streichung des Paragrafen aus“,
       sagt Katja Suding, stellvertretende Bundesvorsitzende der FDP und neu
       gewählte Bundestagsabgeordnete. „Es geht uns um Rechtsklarheit sowohl für
       Ärzte als auch für betroffene Frauen, die Beratung suchen“, sagt Suding der
       taz. „Paragraf 219a behindert die sachliche Information und ist nicht mehr
       zeitgemäß.“
       
       ## Breite Unterstützung
       
       Ähnlich äußert sich Stephan Thomae, stellvertretender Vorsitzender der
       FDP-Fraktion. Er selbst habe einen „vermittelnden Vorschlag“ unterbreitet –
       eine Modifikation des Paragrafen statt einer Streichung – um eine möglichst
       breite parlamentarische Mehrheit zu erreichen, sagt er. „Aber mit einer
       Streichung kann ich mich anfreunden. Wenn der Paragraf wegfällt, entsteht
       in meinen Augen keine Strafbarkeitslücke.“
       
       Auch die Grünen haben am Montag ihren Gesetzentwurf in der Fraktion
       beschlossen; einstimmig, wie die Abgeordnete Ulle Schauws sagt. „Wir
       Politikerinnen und Politiker haben jetzt den Job, etwas zu tun und nicht
       auf das Bundesverfassungsgericht zu warten“, sagt sie. „Ohne Kristina Hänel
       wäre das Thema heute nicht auf der Tagesordnung“, sagt ihre Kollegin
       Cornelia Möhring von der Linksfraktion. Diese hatte ihren Gesetzentwurf
       schon vor dem Prozess im November vorgelegt. „Wir nehmen diesen Auftrag an
       uns sehr ernst. Heute Morgen ist noch einmal deutlich geworden, welche
       breite Unterstützung die Forderung nach der Streichung des Paragrafen 219a
       aus dem Strafgesetzbuch hat.“
       
       FDP, Grüne, Linke und SPD wollen sich am Mittwochmorgen zu einer
       interfraktionellen Arbeitsgruppe zusammenfinden. „Wir werden jetzt mit den
       anderen Fraktionen eine gemeinsame interfraktionelle Initiative ausloten“,
       sagt Högl. Noch während die Übergabeaktion am Bundestag läuft, stimmen der
       Hamburger und der Berliner Senat einer Bundesratsinitiative zu, welche die
       Streichung von Paragraf 219a fordert. „Frauen haben sich in Deutschland das
       Recht auf Schwangerschaftsabbruch erkämpft“, sagte Gesundheits- und
       Gleichstellungssenatorin Dilek Kolat (SPD). „Dass darüber nicht informiert
       werden darf, ist absurd. Der Paragraf muss weg, und zwar schleunigst.“ Auch
       [5][Bremen, Brandenburg und Thüringen unterstützen eine solche
       Bundesratsinitiative].
       
       ## Ärzt*innen ziehen sich zurück
       
       „Es ist gesellschaftlicher Konsens, dass das Informationsrecht für Frauen
       Realität werden muss und dass Paragraf 219a dem entgegensteht“, sagt die
       Ärztin Kristina Hänel. Niemand außer den radikalen Abtreibungsgegnern
       wolle, dass eine Ärztin wegen sachlicher Information bestraft werde.
       Niemand also außer jenen Gruppen, die nicht nur Ärzt*innen zunehmend mit
       Anzeigen drangsalieren, sondern auch Flyer vor Arztpraxen verteilen,
       Abtreibung mit Mord oder gar dem Holocaust gleichsetzen und auf ihren
       Webseiten Bilder zerstückelter Embryonen zeigen. Dabei sei doch niemand für
       Abtreibungen, betont Hänel. „Aber manchmal kommt eine Frau in eine
       Situation, in der sie eben eine braucht. Und dann ist es doch meine
       Pflicht, diese Frauen medizinisch zu versorgen.“
       
       Am Ende führe dieses Klima der Diffamierung dazu, „dass Ärztinnen und Ärzte
       immer weniger bereit sind, Abbrüche überhaupt durchzuführen“, sagt Stefan
       Nachtwey vom Berliner Familienplanungszentrum Balance. Er ist an diesem
       Morgen zum Bundestag gekommen, um Hänel zu unterstützen.
       
       Auch er und seine Kolleg*innen haben sie immer wieder mit Anzeigen zu tun.
       Dadurch werde Frauen letztendlich der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen
       erschwert, sagt Nachtwey. „In Berlin, einer Metropolenregion, sieht es da
       noch vergleichsweise gut aus. Aber gerade in ländlichen Gegenden [6][müssen
       Frauen immer weitere Wege auf sich nehmen].“ Und auch in Berlin hätten sie
       Schwierigkeiten, Stellen nachzubesetzen. Ein unhaltbarer Zustand, findet
       Nachtwey: „Es muss Ärztinnen und Ärzten möglich sein,
       Schwangerschaftsabbrüche anzubieten, ohne Angst zu haben.“
       
       12 Dec 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.change.org/p/kristinah%C3%A4nel-informationsrecht-f%C3%BCr-frauen-zum-schwangerschaftsabbruch-219a-behindert-das
   DIR [2] /Abschaffung-von-219a/!5463558
   DIR [3] /Geldstrafe-wegen-Abtreibungswerbung/!5466133
   DIR [4] /Juristin-ueber-Abtreibungsparagraf-219a/!5467554
   DIR [5] /Bundeslaender-wollen-219a-streichen/!5469166
   DIR [6] /Abtreibung-in-Deutschland/!5386152
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dinah Riese
       
       ## TAGS
       
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