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       # taz.de -- Verbrechens-Vorhersage mit Software: „Die Polizei ist skeptisch“
       
       > Predictive Policing versucht zu prognostizieren, wo und wann Einbrüche
       > begangen werden. Die Analyse kann auch auf andere Delikte ausgeweitet
       > werden.
       
   IMG Bild: Bald durchschaubar? Einbrecher gehen nach Mustern vor.
       
       taz: Herr Egbert, kann man mit Predictive Policing Verbrechen lösen, bevor
       sie stattgefunden haben? 
       
       Simon Egbert: Um von einer Lösung sprechen zu können, bräuchte man eine
       Tat, einen Täter und eine erfolgreiche Strafverfolgung. Bei Predictive
       Policing geht es aber primär um Prävention, also um eine Intervention,
       bevor Straftaten begangen wurden. In Deutschland bezieht es sich aktuell
       vor allem auf Wohnungseinbruchdiebstahl: Man prognostiziert, wo und wann
       höchstwahrscheinlich Einbrüche begangen werden. Es bezieht sich also nicht
       auf Personen, sondern auf Räume.
       
       Und wie weiß man, wann und wo Einbrüche stattfinden werden? 
       
       Die Kernidee von Predictive Policing ist, Kriminaldaten aus der
       Vergangenheit zu benutzen, um bestimmte Muster im Vorgehen zu erkennen. Sie
       werden errechnet und in die Zukunft fortgeschrieben. Ein wichtiges Muster
       ist dabei die „Near repeat“-Hypothese, nach welcher ein professioneller
       Serieneinbrecher rational vorgeht. Er neigt dazu, im Umkreis des ersten
       Tatorts, in der unmittelbaren Zeit danach, noch mal zuzuschlagen. Viele
       Predictive-Policing-Software basieren darauf. Ihre Rolle ist dann, den
       Täter und das Initialdelikt zu erkennen. Dann generiert die Software eine
       raumgebundene Risikoprognose, zum Beispiel 400 Meter im Umkreis des Tatorts
       für bis zu sieben Tage nach dem ersten Einbruch.
       
       Und was macht man dann? 
       
       Es gibt dann zwei Strategien. Man kann deutlich erkennbare Polizeikräfte in
       das Risikogebiet mit der Hoffnung schicken, dass sich mögliche Täter
       abgeschreckt fühlen, so dass die Einbrüche nicht stattfinden. Es gibt aber
       auch eine repressive Strategie, die auf Strafverfolgung beruht. Zivilkräfte
       der Polizei fahren dann ins Risikogebiet, um Täter in flagranti zu
       erwischen. Das Ziel ist, sie strafrechtlich zu verfolgen und ihnen
       eventuell mehrere Taten zuzuordnen. Diese repressive Strategie wird aber in
       Deutschland kaum verwendet, weil sie viel ressourcenaufwendiger und
       dementsprechend auch deutlich teurer ist.
       
       Wird Predictive Policing in Hamburg angewendet? 
       
       Nein. Die Hamburger Polizei beschäftigt sich zwar wissenschaftlich intensiv
       mit dem Thema, sie wendet aber keine entsprechende Software an. Das ist
       bemerkenswert, weil es in der Hamburger Polizei Organisationen wie die
       Sonderkommission „Castle“ gibt, die sich genau mit dieser Klientel von
       Tätern und Täterinnen beschäftigt. Dadurch hätte die Polizei eigentlich
       sehr gute Rahmenbedingungen, eine solche Predictive-Policing-Software und
       den entsprechenden Ansatz zu testen.
       
       Warum? 
       
       Innerhalb der Polizei ist man skeptisch. Die Software kostet ja auch Geld
       und bindet Personal.
       
       Ist diese Skepsis berechtigt? 
       
       Interessanterweise kann das keiner sagen. Die Wirksamkeit von Predictive
       Policing ist fast unmöglich nachzuweisen. Wenn die Polizei in ein
       prognostiziertes Risikogebiet geschickt wird, und dann keine Tat
       stattfindet, kann hinterher nicht eruiert werden, warum keine Einbrüche
       begangen wurden. Liegt es daran, dass die Prognose falsch war oder dass
       Täter tatsächlich abgeschreckt wurden? Die Kausalität ist dann unklar.
       
       Und bemerkt man ein Sinken der Fallzahlen, wo solche Software angewendet
       wird? 
       
       In den meisten Fällen ist die Implementierung einer entsprechenden Software
       immer verbunden mit anderen neuen Maßnahmen. Wenn die Deliktzahlen also
       sinken, kann man nicht sagen, woran das liegt. Man bräuchte eigentlich zwei
       identische Stadtteile, die dasselbe Grundrisiko bezüglich
       Wohnungseinbrüchen haben, um sie mit und ohne die Software vergleichen zu
       können. So was gibt es aber nicht.
       
       Kann man das nicht anders testen? 
       
       Man kann die Prognose an sich testen. Anhand der Kriminalitätsdaten aus
       vergangenen Jahren kann man beispielsweise Prognosen für das Vorjahr
       generieren und dann die errechneten Prognosen mit dem tatsächlichen
       Fallaufkommen vergleichen. Und da kommen durchaus gute Zahlen raus, über 80
       Prozent Übereinstimmung. Das bezieht sich aber nur auf die Prognosequalität
       und Predictive Policing ist eine ganzheitliche Strategie, deren Bestandteil
       eben auch die Umsetzung der Prognosen in den Risikoräumen ist. Es bringt
       nichts zu wissen, wann und wo eingebrochen wird, wenn dann dort nichts
       gemacht wird.
       
       Ist das trotzdem die Polizeiarbeit der Zukunft? 
       
       Ich glaube, dass grundsätzlich eine datengestützte Arbeit die Polizeiarbeit
       der Zukunft ist. Die Arbeit mit Daten wird immer günstiger und die
       Server-Kapazitäten größer. Und ich denke auch, dass Polizeiarbeit in
       Zukunft auch stets Prognoseelemente beinhalten wird. Alle Bundesländer
       werden bestimmt in fünf bis zehn Jahren prädiktive Software benutzen. Ein
       Grund dafür ist auch, dass sie auf andere Delikte wie Autoeinbrüche
       erweitert wird, zumindest testweise.
       
       Könnte man sich auch Predictive Policing vorstellen, das auf Personen
       bezogen ist? 
       
       Es ist ein bisschen die Frage, was man unter Predictive Policing versteht.
       Wenn man vom Begriff selber ausgeht und ihn schlicht als prognosebasierte
       Polizeiarbeit definiert, dann wird es höchstwahrscheinlich bald eine
       vorhersagende Polizeiarbeit geben, die sich auf Personen bezieht.
       
       Gibt es Beispiele dafür? 
       
       Anfangs des Jahres hat das Bundeskriminalamt sein Prognosesystem RADAR-iTE
       vorgestellt, das die individuellen Risikopotenziale islamistischer
       „Gefährder“ beziehungsweise „relevanter Personen“ auf Basis ihres
       beobachtbaren Verhaltens konkretisieren soll. Inzwischen wird es in
       mehreren Bundesländern wie Hamburg benutzt. Das hat mit automatisierter
       Datenanalyse wie in aktuellen Predictive-Policing-Anwendungen wenig zu tun
       und es wird auch explizit nicht als Predictive Policing vorgestellt, aber
       die Grundidee ist meiner Einschätzung nach dieselbe, nämlich dass die
       Polizei in der Gegenwart wissen will, was in der Zukunft passiert. Im Kern
       findet sich diese Grundidee ja auch schon im Film „Minority Report“.
       
       Das ist aber Science-Fiction. 
       
       Ja, natürlich. Aber ich halte die grundsätzliche Denkrichtung für
       realistisch. Die Polizei in Chicago hat zum Beispiel das Projekt „Strategic
       Subject List“ entwickelt, in deren Rahmen Personen etwa anhand ihrer
       Vorstrafen, Gangmitgliedschaften und gewaltsamer Todesfälle im
       Bekanntenkreis ein Risikoscore bezüglich der Wahrscheinlichkeit zugeordnet
       wird, dass sie Opfer oder Täter eines Tötungsdeliktes werden.
       
       Könnte man das erweitern? 
       
       Theoretisch ist es ein riesiger Markt und der politische Druck ist da. Es
       ist sicherheitspolitisch sehr interessant, gerade wenn es um Terrorismus
       geht. Deshalb kann ich mir gut vorstellen, dass ähnliche Verfahren häufiger
       werden und zum Beispiel, dass Serieneinbruchstäter irgendwann einmal Objekt
       von derartigen Formen des Predictive Profiling werden. Aber ich weiß von
       keiner konkreten Planung und halte sie in absehbarer Zeit auch für
       unrealistisch.
       
       Ist das nicht gefährlich? 
       
       Es gibt schon Risiken, gerade wenn es um Datenschutz- oder
       Persönlichkeitsrechte geht. Ein anderes Problem ist der Algorithmus, der
       verwendet wird. Er beruht auf der Datenbasis der Polizei, die aber nicht
       neutral ist, sondern davon abhängt, wen die Polizei aufgegriffen hat und wo
       sie kontrolliert. Manche Algorithmen können sich durch die Daten selber
       verändern. Aber wenn die Polizei mit ihren, in diesem Sinne verzerrten
       Daten arbeitet, wird diese Verzerrung im Algorithmus inkorporiert und
       womöglich verstärkt.
       
       Die Software könnte ein sehr mächtiges Instrument sein. 
       
       Besonders wenn zum Beispiel allein die Prognose legitimieren sollte, dass
       in den Risikoräumen anlasslos kontrolliert werden kann – so ähnlich wie in
       den früheren Gefahrengebieten beim G20-Gipfel in Hamburg.
       
       Ist dann Predictive Policing überhaupt wünschenswert? 
       
       Die Idee ist an sich nicht schlecht und es ist natürlich erst einmal
       positiv, wenn Fallzahlen sinken. In der jetzigen, vergleichsweise
       rudimentären Form halte ich die Umsetzung für absolut vertretbar.
       
       2 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Adèle Cailleteau
       
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