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       # taz.de -- Ausstellung im Cartoonmuseum Basel: Dr. Jekyll und Mr. Mattotti
       
       > Fragile Linien: Das Cartoonmuseum Basel ehrt den Zeichner und Illustrator
       > Lorenzo Mattotti mit einer großen Schau.
       
   IMG Bild: So düster wurde das Märchen von Hänsel und Gretel noch nicht erzählt
       
       Ein ganzer Raum ist „Hänsel und Gretel“ gewidmet. Es ist ein rundes Dutzend
       breiter, großformatiger Bilder, in denen die Farbe Schwarz dominiert. Aus
       einem Gestrüpp kräftiger Pinselstriche entsteht ein dichter Wald, in dessen
       lichten Winkeln sich die bekannte Geschichte abspielt. So düster wurde das
       Märchen noch nicht erzählt. Das Geschwisterpaar ist nie von Nahem zu sehen,
       es erscheint als Schattenriss von Kindern, die Hand in Hand durch den
       dunklen Wald irren.
       
       Besonders finster erscheint die Szene, in der die ahnungslosen Kinder auf
       einer Lichtung alleingelassen werden und ihre Rabeneltern sich mit
       verstohlenen Blicken aus dem Bild schleichen.Der Betrachter spürt förmlich
       die Inspiration, die der italienische Zeichner Lorenzo Mattotti bei der
       Arbeit verspürt haben muss, um diese expressiven, atmosphärisch dichten
       Illustrationen (2009) zum Grimm’schen Märchen zu kreieren, allein mit
       schwarzer Tusche, aber mit malerischem Pinselschwung.
       
       Dem 1954 in Brescia geborenen, heute in Paris lebenden Comiczeichner und
       Illustrator hat das Cartoonmuseum Basel eine feine, vielgestaltige
       Ausstellung gewidmet, die sich durch das ganze verwinkelt gebaute Haus
       zieht. „Imago“ nennt sich die Schau, und spielt damit mit den verschiedenen
       Bedeutungen des lateinischen Worts („Bild“, „Trugbild“ oder „inneres Bild“
       in der Psychologie) und nicht zuletzt der assoziativen Nähe zum Begriff der
       „Imagination“.
       
       Imagination ist vielleicht sowieso ein Schlüsselwort zum Werk des
       Künstlers: als Vorstellungskraft eines Bilder-Schöpfers, der die Realität
       nie ungebrochen darstellt, vielmehr wie ein Archäologe die tieferen
       Bedeutungsschichten seiner Geschichten hervorwühlt und Seelenzustände mit
       traumähnlichen Bildern umschreibt. Die Fantasieleistung des Lesers ist
       dabei ebenso wichtig, um die oft verrätselte Bildsprache des Künstlers zu
       entschlüsseln.
       
       Nach einigen frühen Comicerzählungen in den 1970ern gründete Lorenzo
       Mattotti 1980 zusammen mit Künstlerkollegen wie Jerry Kramsky und Igort das
       avantgardistische Künstlerkollektiv „Valvoline“, das den Comic als offene,
       experimentelle Ausdrucksform entdeckte. 1983 erschien mit „Signor Spartaco“
       Mattottis erster längerer Comic.
       
       ## „Feuer“ war der Durchbruch
       
       1985 gelang ihm mit der Veröffentlichung des schon damals als „Comicroman“
       gefeierten Bandes „Feuer“ der Durchbruch: einer düsteren Allegorie um den
       Offizier eines Panzerkreuzers, Leutnant Absinth, der auf eine Insel
       abkommandiert wird, um mehr über einige mysteriöse, vermutlich feindliche
       Vorgänge dort herauszufinden. Doch Absinth wird von der urwüchsigen Natur
       und den fantastischen Wesen auf der Insel in den Bann gezogen und jagt am
       Ende sein Kriegsschiff in die Luft.
       
       Nicht nur die vieldeutige Fabel von „Feuer“ war bemerkenswert, vor allem
       Form und Farbgebung faszinierten durch ihre Neuartigkeit: Fließend
       verändern sich die Bewusstseinszustände der Charaktere, und so kann sich
       auch deren physische Gestalt wandeln, bis hin zur äußersten Abstraktion
       können sie sich in Schemen auflösen. Mattottis geradezu expressionistische
       Handhabung der Farbe mittels Pastell- oder Ölkreiden erzeugt dabei einen
       rauschhaften Sog.
       
       Mattotti schuf in diesem unverkennbaren Stil, oft in Zusammenarbeit mit dem
       befreundeten Autor Jerry Kramsky, viele weitere poetisch-surreale Werke,
       die meist den Konflikt von Außenseiterfiguren mit der Gesellschaft
       behandelten, darunter 2003 eine kongeniale, ins Berlin der 1920er Jahre
       versetzte Adaption der Novelle „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“, in der er
       visuelle Zitate der Kunst von George Grosz und Otto Dix einflocht.
       
       ## „Ligne Fragile“ statt „Ligne Claire“
       
       Parallel zu diesen typischen farbintensiven Werken schuf Mattotti immer
       wieder auch grafische Erzählungen nur in Schwarz-Weiß, die seine
       künstlerische Wandelbarkeit zeigen. Schon in den 1970ern begann er mit
       Skizzenbüchern, die zur täglichen Übung gedacht waren, um seine Fantasie zu
       trainieren. Mattotti selbst nennt diesen noch rohen, experimentellen Stil
       „Ligne Fragile“, als Gegensatz zur sehr gebändigten, realistischeren „Ligne
       Claire“, dem beliebten belgischen Comicstil, der vom Zeichner Hergé („Tim
       und Struppi“) geprägt wurde.
       
       Mattotti lebt bis heute mit diesen fragilen Ideenskizzen seine oft
       grotesken und erotischen Fantasien sehr direkt und ohne Anspruch auf
       stilistische Perfektion aus. Er schafft so den Nährboden für seine äußerst
       stilsicheren schwarz-weißen Graphic Novels, die er ab den 1990er Jahren
       veröffentlicht, noch bevor diese Bezeichnung für Comicromane sich
       durchsetzte: „Der Mann am Fenster“ von 1991 etwa, eine zarte, persönliche
       Liebesgeschichte (geschrieben von seiner Exfrau Lilia Ambrosi), „Stigmates“
       (1998), die berührende Studie eines Außenseiters, dem christliche Wundmale
       wachsen, bis hin zu seinem neuesten, fantastisch anmutenden Werk
       „Guirlanda“, in dem er sich ästhetisch wieder einmal zu erneuern versucht.
       
       Die reich mit Originalen bestückte Basler Ausstellung macht deutlich, dass
       sich der Künstler in kein Schema pressen lässt. Parallel zu seinen Comics
       und Buchillustrationen war Mattotti immer auch als Grafiker gefragt,
       entwarf prägnante Modeillustrationen für Zeitschriften wie Vanity Fair oder
       Titelbilder für den New Yorker. Im Begleitbuch zur Ausstellung geben die
       Kuratorin Anette Gehrig und der Autor Christian Gasser eine Einführung ins
       vielfältige Werk Mattottis, nähern sich vor allem der „Ligne Fragile“ mit
       einer schönen Auswahl dieser weniger bekannten Seite seines Schaffens.
       
       Während in den 1990er Jahren viele Werke Lorenzo Mattottis auch auf Deutsch
       veröffentlicht wurden, muss sich der Leser inzwischen wieder englische oder
       französische Ausgaben beschaffen. Es ist an der Zeit, diesen für die
       Entwicklung der Graphic Novel der vergangenen 30 Jahre wichtigen Künstler,
       der jüngeren Zeichnern wie Manuele Fior, Gipi oder der französischen Gruppe
       „L’Association“ neue Möglichkeiten aufzeigen konnte, wiederzuentdecken und
       seine Werke neu aufzulegen. Die Basler Ausstellung gibt einen wichtigen
       Impuls dazu.
       
       9 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralph Trommer
       
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