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       # taz.de -- Politische Philosophie der Einwanderung: „Ein milder Nationalismus ist nötig“
       
       > Welche legitimen Forderungen hat jemand, der kein Flüchtling ist, aber
       > ein besseres Leben will? David Miller über Moral und Migrationspolitik.
       
   IMG Bild: Flüchtlinge im Oktober 2015 in Slowenien
       
       taz: Herr Miller, wir treffen uns hier in Frankfurt, der Stadt, die sich
       auf den Zuzug von vielen Bankern im Zuge des Brexits vorbereitet. Einwohner
       fürchten das Steigen der Mietpreise. Angenommen, Bürger würden eine
       restriktive Visa-Politik für britische Banker fordern: Fänden Sie das
       moralisch legitim? 
       
       David Miller: Menschen haben einigen Anspruch darauf, dass sich ihre Umwelt
       nicht allzu rasch gegen ihre Wünsche verändert. In London werden daher
       nicht alle traurig sein, wenn wir einige Banker verlieren. Dort konnten wir
       die Effekte beobachten, wenn große Mengen von Fremdkapital angelegt werden,
       was die Wohnkosten in die Höhe treibt und die Londoner aus ihren
       angestammten Quartieren. Natürlich gibt es immer Veränderungen – das
       Problem entsteht, wenn sie zu schnell geschehen.
       
       Einer der Gründe für viele Briten mit geringem Einkommen, für den Brexit zu
       stimmen, waren osteuropäische Migranten im Niedriglohnsektor. Halten Sie
       das auch für gerechtfertigt? 
       
       Es gibt zwei Fragen bezüglich Migranten, die im Niedriglohnsektor arbeiten
       wollen. Eine ist, ob es zu Lohndumping und damit zu Auswirkungen auf das
       Lohnniveau der arbeitenden Bevölkerung kommt. Das ist umstritten. Ich halte
       den sozialen Effekt für bedeutender. Wenn eine hohe Zahl von Menschen aus
       dem Ausland in die Nachbarschaft zieht, kann das Probleme schaffen – auch
       wenn es sich um europäische Ausländer handelt, die kulturell möglicherweise
       gar nicht so verschieden sind. Auch hier gilt: Die Menschen fühlen sich
       gestört, je schneller die Veränderung geschieht.
       
       Sie gelten als jemand, der einen sozialdemokratischen Blick auf die
       Gesellschaft hat. Was ist denn das Sozialdemokratische an Ihren Positionen? 
       
       In deutschen Begrifflichkeiten könnte man mich als Sozialdemokraten
       bezeichnen. Aber mein philosophischer Standpunkt ist, dass eine
       Gesellschaft für eine Politik der sozialen Gerechtigkeit ein gewisses Maß
       von Gemeinsamkeiten braucht. Deshalb werde ich manchmal als liberaler
       Nationalist bezeichnet. Aber ich finde: Eine milde Form des Nationalismus
       ist nötig, um sozialdemokratische Politik umzusetzen.
       
       Sie sprechen sich aber auch für einen, wenn auch schwachen, Kosmopolitismus
       aus. Wie passt liberaler Nationalismus zum Kosmopolitismus? 
       
       Das kann man durchaus verbinden. Als liberaler Nationalist muss man auch
       über Verantwortung für Menschen jenseits der eigenen Grenzen nachdenken.
       Hier kommt der Kosmopolitanismus ins Spiel, weil der Staat im Ausland Dinge
       tun kann, die wir als moralisch inakzeptabel ansehen würden. Ein
       offensichtlicher Fall: Die Umwelt einer anderen Gesellschaft zu
       verschmutzen, ist moralisch nicht zu vertreten. Die schwierigere Frage ist:
       Welche Art von positiven Verpflichtungen haben wir gegenüber Leute jenseits
       unserer Grenzen?
       
       Welche haben wir? 
       
       Die vorrangige Verpflichtung erklärt sich am besten in Begriffen der
       Menschenrechte. Menschen können Menschenrechte ungeachtet der Zugehörigkeit
       zu irgendeiner Nation einfordern. Staaten haben auch eine Verantwortung
       gegenüber Menschen, deren Lebensbedingungen es nicht zulassen, dass
       Menschenrechte erfüllt werden können: solchen, die in tiefster Armut leben
       oder in Bürgerkriegsgebieten. Umstritten ist, wie viel Staaten in solchen
       Fällen tun müssen.
       
       Was muss ein Staat für Flüchtlinge tun? 2015 war die Bundesregierung
       zunächst der Meinung, dass Deutschland moralisch verpflichtet sei, alle
       syrischen Flüchtlinge aufzunehmen, die an den Grenzen ankommen. 
       
       Das war keine weise Entscheidung und gewiss keine, die moralisch
       erforderlich war. Aus mehreren Gründen: Erstens hätte die Reaktion auf die
       Flüchtlingskrise eine koordinierte europäische Antwort sein müssen, nicht
       eine einseitige Entscheidung eines einzelnen Staates. Was in Deutschland
       geschah, hat es viel schwieriger gemacht, eine gemeinsame europäische
       Antwort zu finden. Zweitens hat die Entscheidung, Flüchtlinge aus Syrien
       regelrecht einzuladen, die langfristigen Auswirkungen nicht bedacht.
       Nämlich die möglichen Anreize, die das für Menschen schafft, die in einem
       der Nachbarstaaten Syriens Zuflucht gefunden hatten.
       
       Hätte Deutschland 2015 eine Alternative gehabt? 
       
       Lassen Sie uns über eine ideale Antwort auf eine solche Krise nachdenken.
       Zuerst sollten wir zwischen denjenigen unterscheiden, die nur zeitweise
       Flüchtlinge sein werden, und denen, für die es keine Rückkehr geben wird
       und die deshalb in einer westlichen Gesellschaft aufgenommen werden
       müssten. An letztere könnte man Visa verteilen, indem man etwa in den
       Flüchtlingscamps diejenigen identifiziert, die eine dauerhafte Umsiedlung
       am dringendsten brauchen.
       
       Die Bedingungen in diesen Camps waren für fast alle ziemlich schrecklich. 
       
       In einigen war das vielleicht der Fall, aber nicht immer. Wenn Sie auf die
       relativen Kosten schauen, die es verursacht, jemand in einem Camp zu
       unterstützen im Vergleich dazu, ihn als künftigen Bürger eines Landes wie
       Deutschland aufzunehmen, dann betragen sie einen winzigen Teil gegenüber
       der zweiten Variante. Mit begrenzten Mitteln im Verhältnis zu einer
       riesigen Zahl von Flüchtlingen ist es am effektivsten, zuerst dafür zu
       sorgen, dass sie vernünftig versorgt werden in den Ländern, wo sie jetzt
       leben – und dann kann man anfangen, bestimmte Leute zur Umsiedlung nach
       Europa auszuwählen. So gehen Länder wie Kanada oder Australien damit um.
       
       Kanada nimmt im Vergleich zu Deutschland nur sehr wenige Flüchtlinge auf. 
       
       Ja. Aber die Frage ist: Wie viele Flüchtlinge müssen tatsächlich dauerhaft
       in eine westliche Gesellschaft umgesiedelt werden? In Syrien wird der
       Bürgerkrieg irgendwann enden. Dann werden viele Menschen zurückkehren und
       damit beginnen, Syrien wiederaufzubauen.
       
       Sie haben neben dem schwachen Kosmopolitanismus, ein weiteres Prinzip, die
       nationale Selbstbestimmung. Was heißt das? 
       
       Wir müssen das Flüchtlingsproblem zunächst von der Immigration im weiteren
       Sinne trennen, weil die Staaten bezüglich der Immigration einen sehr weiten
       Spielraum haben, welche Einwanderungspolitik sie verfolgen wollen. Das
       reicht von klassischen Einwandererländern wie den USA oder Kanada, wo schon
       immer viele Menschen ankamen und mehr oder weniger erfolgreich integriert
       wurden, bis hin zu Ländern, die immer schon eine geringe Zuwanderung
       akzeptierten wie Japan oder einige europäische Länder. Das ist eine Frage
       der nationalen Selbstbestimmung – eine demokratische Entscheidung, welche
       Art von Einwanderungspolitik man haben will.
       
       Gesellschaften verändern sich doch ohnehin, mit jeder neuen Generation
       kommen neue Ideen. Welchen Unterschied macht es, ob die neue Ideen von
       einer neuen Generation kommen oder von Migranten aus anderen Ländern
       kommen? 
       
       Sicher, Gesellschaften sind nie statisch. Aber bei Einwanderung verläuft
       die Veränderung oft viel schneller. Wie kulturell divers möchten wir unsere
       Gesellschaft haben? Manche bevorzugen eine Art von Kaleidoskop von
       verschiedenen Kulturen, andere eine mehr Mainstream-orientierte Kultur mit
       einem kleinen Anteil von Minderheiten am Rande. Besonders in europäischen
       Gesellschaften mit ihren langen geschichtlichen Erinnerungen schätzen es
       Menschen im Allgemeinen, das zu bewahren, was sie als ihre historisch
       dominante Kultur ansehen.
       
       Ihr neues Buch „Fremde in unserer Mitte“ ist eine Antwort auf Joseph
       Carens, der in seinem Band „The Ethics of Immigration“ für offene Grenzen
       plädiert. Er vergleicht das Privileg, in einem westlichen Land geboren zu
       sein, mit den Privilegien von Feudalherrn im Mittelalter. Was ist daran
       falsch? 
       
       Das ist eine farbenfrohe Analogie. Aber im Feudalismus waren die Bauern und
       Leibeigenen den Gesetzen unterworfen. Man konnte ihnen vorschreiben, was
       sie tun sollten. Heute gibt es zwar viele Ungleichheiten, aber im
       Allgemeinen ist es nicht der Fall, dass Deutsche Indonesiern sagen, was sie
       tun sollen. Wer sagt, es sei ungerecht, in ein ärmeres Land hineingeboren
       zu sein, greift oft ein besonders armes Land wie Somalia heraus und
       vergleicht es mit zum Beispiel Deutschland. Aber wenn man Ungleichheit
       zwischen Ländern für das zentrale Problem hält, sollte man über Portugal
       diskutieren.
       
       Ein Portugiese hat aber das Recht, nach Deutschland zu kommen, ein Somalier
       nicht. 
       
       Ja. Dennoch ist das Hauptproblem nicht die Existenz globaler Ungleichheit,
       sondern globale Armut. Was ist die Antwort des Westens darauf? Ist es die
       Aufnahme vieler Migranten – oder zielt unsere Politik darauf ab, arme
       Gesellschaften bei der Entwicklung zu unterstützen? Die Antwort ist nicht
       einfach, weil die, die in einer solchen Situation auswandern, bessere
       Lebenschancen haben als die, die bleiben. Aber wenn viele Leute auswandern,
       sind die Zurückbleibenden möglicherweise wegen denen, die gegangen sind,
       schlechter dran. Der Braindrain ist eine sehr ernste Sache für arme Länder.
       
       Welche moralischen Argumente haben wir, jemand den Zugang zu verweigern,
       der sich ein besseres Leben wünscht? 
       
       Nehmen wir an, Sie möchten einen Job haben und sagen dem Chef: Geben Sie
       mir die Stelle. Und der Chef sagt: Nein, wir brauchen Sie nicht, Sie können
       die Stelle nicht bekommen. Ihr Job bei uns wäre nicht zu unserem Vorteil,
       deshalb haben wir das Recht, Ihnen den zu verweigern. Ich möchte Ihre Frage
       umkehren: Welche legitimen Forderungen hat jemand, der kein Flüchtling ist,
       aber ein besseres Leben will? Wenn eine Einwanderungspolitik wie in den
       meisten demokratischen Staaten viele Menschen ausschließt, hat der Staat
       die Verpflichtung, den Leuten, denen er den Zugang verwehrt, die Gründe zu
       erklären. Die Antwort ist: Wir haben eine Einwanderungsgrenze, wir haben
       ein Punktesystem – und ich fürchte, Sie haben leider nicht genug Punkte.
       Wir haben die Quote für dieses Jahr erreicht.
       
       Die Bewegung für offene Grenzen hat derzeit viel Unterstützung. Wie
       erklären Sie sich das? 
       
       Viele Befürworter sind sehr idealistisch. Liberale und Intellektuelle
       sorgen sich über Ungleichheiten und das Schicksal von Menschen außerhalb
       des eigenen Landes. Sie denken, dass Öffnen der Grenzen sei die Lösung. Auf
       der anderen Seite denken Kapitalisten, das Öffnen der Grenzen sei nützlich,
       um an billige Arbeiter zu kommen und die Gewerkschaften zu umgehen. Es gibt
       in dieser Frage eine Koalition zwischen links und rechts.
       
       7 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Reeh
       
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