URI: 
       # taz.de -- Die Wahrheit: Vom E-Vermögen der Zitteraale
       
       > Die lustige Tierwelt und ihre gar ernste Erforschung gehen in die 45.
       > Folge. Heute sind die elektrischen Aale dran.
       
   IMG Bild: Minuspol am Schwanz, Pluspol am Kopf: Gestatten, der Zitteraal!
       
       Der Zitteraal ist kein Aal, sondern ein „Neuwelt-Messerfisch“:
       „Electrophorus electricus“ genannt. Er fühlt sich besonders im ausgedehnten
       Flussgebiet des Orinoco wohl. Kein Wunder, dass Alexander von Humboldt über
       ihn berichtete, führte dessen Südamerika-Expedition doch genau zu diesem
       viertgrößten Fluss der Welt, den er zu Teilen vermaß. Humboldt vermaß
       alles!
       
       Bei den Zitteraalen bemaß er sogleich die Ladekapazität ihrer „Batterie“.
       Dazu trieben ihm einige Indianer, die laut Humboldt den Zitteraal
       fürchteten, eine Pferdeherde in einen Sumpf, woraufhin die bis zu drei
       Meter langen Fische sich bedroht fühlten und die Gäule elektrisierten.
       Einige starben durch den Stromschlag. Nach einiger Zeit aber „kamen die
       Zitteraale in einen Zustand entladener Batterien, sei es nun, dass die
       galvanische Elektrizität sich durch Ruhe in ihnen häufe oder dass ihr
       elektrisches Organ durch einen zu häufigen Gebrauch ermüdet und zu seinen
       Verrichtungen unbrauchbar gemacht wird“, schrieb Humboldt in den „Annalen
       der Physik“ (1807).
       
       ## Stark wie 600 Volt
       
       In vielen Aquariumshäusern hat man heute an den Becken mit Zitteraalen
       Messgeräte angebracht; sie zeigen die Stromstärke an, die von diesen
       Fischen erzeugt wird. Sie schaffen eine „Spannung von 300 bis 400 Volt“,
       heißt es in der Humboldt-Biografie des DDR-Schriftstellers Herbert Scurla.
       Inzwischen ist von 600 bis 800 Volt die Rede.
       
       Die Zitteraale im Flussgebiet des Orinoco wurden nach ihrer „Entladung“ von
       den Indianern mit Harpunen gefangen. „In wenigen Minuten waren fünf große
       Fische an Land gezogen“, schreibt Humboldt. „Wir hätten über zwanzig haben
       können, hätten wir ihrer so viele zu unseren Versuchen bedurft.“
       
       Anschließend heißt es: „Nachdem wir vier Stunden lang an ihnen
       experimentiert hatten, empfanden wir bis zum anderen Tage Muskelschwäche,
       Schmerz in den Gelenken, allgemeine Übelkeit.“ Heraus kam dabei, dass sie
       „deutlich beobachten konnten, wie die Intensität der natürlichen
       Elektrizität dieses Fisches durch die verschiedene Stärke der Lebenskraft
       modifiziert wird“.
       
       ## Elektrische Lebenskraft
       
       Über den Begriff „Lebenskraft“ hatte es im „Physikalischen Wörterbuch“
       (1790) von Johann Gehler geheißen: „Auch für den Zitteraal gilt es, dass
       sein elektrisches Vermögen in dem innigsten Zusammenhange mit der
       Lebenskraft steht. Der Zitteraal ertheilt seine Schläge und richtet die
       Stärke derselben ganz nach den Umständen ein, um seinen Zweck zu
       erreichen.“ Der Physiker Gehler war nie am Orinoco, es musste demnach
       jemand schon vor Humboldt dort gewesen zu sein und über das
       Neuwelt-Phänomen Zitteraal berichtet haben.
       
       Bevor Humboldt endlich eines Tages nach Südamerika aufbrechen konnte, hatte
       er sich bereits ausgiebig mit der „Lebenskraft“ als auch mit der
       „Elektrizität“ befasst. 1792 vollzog er in Wien Luigi Galvanis
       Froschexperimente nach, elektrisierte sich selbst und setzte sich zudem mit
       Alessandro Voltas Einwänden auseinander. Außerdem studierte er die neuen
       „elektromagnetischen Theorien“ aus Göttingen.
       
       Für Humboldt hatten „Lebenskraft“ und „Elektrizität“ eine große
       Schnittmenge, wenn sie nicht sogar ein und dasselbe waren. In Schillers
       Zeitschrift Horen veröffentlichte er 1795 eine „Erzählung“ über die
       „Lebenskraft“; dem Freund Johann Carl Freiesleben verriet er jedoch wenig
       später: „Ich glaube nun bald den gordischen Knoten des Lebensprozesses zu
       lösen.“
       
       Aber erst 100 Jahre später gelang dem russischen Entwicklungsbiologen
       Alexander Gurwitsch der Nachweis, dass lebende Zellen Photonen abstrahlen.
       Der Physiker Fritz-Albert Popp nennt sie heute „Biophotonen“. Wenn man
       stirbt, ist es in organismischer Hinsicht so, wie wenn jemand das
       elektrische Licht ausknipst.
       
       ## E-Muskelspiele
       
       Zurück zum Zitteraal: Dessen „elektrische Organe sind eigentlich
       umgebildete Muskeln, die hohe Spannungen freisetzen können. Jedes dieser
       Organe besteht aus einer großen Zahl stromerzeugender Elemente, von denen
       jedes nur eine geringe Spannung erzeugt. Diese sind wie in einer Batterie
       angeordnet, in der die Platten in Reihe geschaltet werden“, heißt es – sehr
       technisch gedacht – auf Wikipedia.
       
       Der Zitteraal verpasst damit seinen Feinden, aber auch seiner Beute
       (Fische) sowie dem Partner – bei der Verpaarung – Stromschläge, die er
       dosieren kann, wobei sich der Pluspol am Kopf und der Minuspol am Schwanz
       befindet. Kurzum: Ein Großteil seines Gemütslebens drückt der Zitteraal
       elektrisch aus!
       
       Umgekehrt sah ich einmal einem Gemütsathleten in Manila bei der Arbeit zu:
       Er ging mit einer umgebundenen Autobatterie durch ein Reisfeld und hielt
       alle paar Meter zwei Drähte ins Wasser. Dadurch betäubte er aalähnliche
       kleine Fische, die er aufschlitzte und in eine Plastiktüte steckte.
       
       Im großen Stil testen gerade die Niederlande den Fang von Krabben und
       Schollen mit „Elektronetzen“: Die EU will 2018 über deren Zulassung
       entscheiden. In ebenfalls ökonomisch großem Stil dachten einige
       US-Wissenschaftler, als sie die Strom erzeugenden „Elektrozyten“ des
       Zitteraals mit einem 3-D-Drucker nachbauten, um damit in Zukunft „Sensoren,
       Implantate und Herzschrittmacher“ auszurüsten, wie sie im Fachblatt Nature
       schrieben.
       
       Bild der Wissenschaft berichtete hingegen von einem anderen
       US-Wissenschaftler der Universität in Nashville, der das, was Humboldt über
       den Zitteraal schrieb, für „Unsinn“ hielt: Denn warum sollen die Fische
       Pferde angreifen? Warum schwimmen sie nicht einfach weg? Aber dann bekam
       der Mann Projektförderung, besorgte sich Zitteraale, setzte sie in sein
       Laboraquarium und reizte sie dort mit verschiedenen Feind-Attrappen.
       
       Die Fische sprangen aus dem Wasser und griffen die Attrappen sofort an: „Je
       höher ihr Kopf mit dem Kinn den ‚Feind‘ berührt, desto heftiger ist der
       verpasste Stromstoß.“ Der Forscher stellte außerdem fest, „dass seine
       Versuchstiere das Sprungverhalten vor allem dann zeigten, wenn das Wasser
       im Aquarium niedrig stand. Vermutlich fühlen sie sich dann besonders leicht
       bedroht und verteidigen sich entsprechend rabiat.“
       
       ## Schockierende Historie
       
       Damit war Humboldts „Schockierende Zitteraal-Geschichte bestätigt,“ wie das
       deutsche Wissenschaftsmagazin titelte. Dann berichtete aber auch der
       österreichische Standard über jene Versuche an der Universität von
       Nashville. Unter der Überschrift „Die tropischen Fische werfen sich ihren
       Gegnern regelrecht entgegen“ heißt es da seltsamerweise: „In einem
       schmerzhaften Selbstversuch hat ein US-Forscher diesen Spezialangriff
       genauer untersucht“ – und zwar, indem er dem Zitteraal seinen Arm
       entgegenstreckte.
       
       Das soll er im Fachblatt Current Biology geschrieben haben. Und außerdem,
       dass die Stärke des Stromstoßes deutlich höher sei als die von
       Elektroschockpistolen (Taser), wie sie zum Beispiel die Polizei von
       Nashville benutzt. Woher weiß er das?
       
       Ich weiß nur – aus der Tageszeitung Tennessean –, dass unweit der dortigen
       Universität Anfang 2017 einem Polizisten bei seiner Patrouille der „Taser“
       geklaut wurde.
       
       8 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Helmut Höge
       
       ## TAGS
       
   DIR Biologie
   DIR Fische
   DIR Tiere
   DIR Biologie
   DIR Biologie
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Die Wahrheit: Kot für die Welt
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (Teil 48): Die schon im
       Altertum vergötterten Mistkäfer und ihre apfelgroßen Kackbälle.
       
   DIR Die Wahrheit: Aufgüsse für die Aufgusstierchen
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung beschäftigt sich im 47.
       Teil mit Einzellern, die nicht aus dem Nichts entstehen.
       
   DIR Die Wahrheit: Zebra, bleib bei deinen Streifen!
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (Teil 46): Wie die
       Tsetsefliege den gemusterten Huftieren das Überleben sichert.
       
   DIR Die Wahrheit: Schafe sind keine Schimpansen
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (Teil 44): Die Welt der
       Schäfer und ihrer Herden ist voll von Anekdoten und Witzen.
       
   DIR Die Wahrheit: Wilde, wilde Lügen
       
       Die lustige Tierwelt und ihre gar ernste Erforschung gehen in die 43.
       Runde. Heute: Können Tiere und Pflanzen lügen?
       
   DIR Die Wahrheit: Kraken, erstaunlich in Ekstase
       
       Die lustige Tierwelt und ihre gar ernste Erforschung geht in die 42. Runde.
       Nun ist der Oktopus dran.