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       # taz.de -- Anita-Rée-Ausstellung in Hamburg: Zum Schluss malte sie nur noch Schafe
       
       > Eine Hamburger Ausstellung würdigt die neosachliche Künstlerin Anita Rée,
       > die von den Nazis in die Rolle der Jüdin gedrängt wurde und sich 1933 das
       > Leben nahm. Ihren Stil bildete sie an der italienischen Renaissance
       
   IMG Bild: Anita Rée: „Verirrtes Schaf in verschneiten Dünen“, 1932/33
       
       HAMBURG taz | Dieser Blick fasziniert sofort: Als wäre es gestern gemalt,
       blickt einem dieses Mädchen mit Silberdistel und Kopftuch entgegen, wach
       und freundlich, ein Mensch wie Du und Ich. Gemalt ist es wie ein Porträt
       der Renaissance, und das macht die Sache so interessant. Denn die Wahrheit
       liegt irgendwo zwischen Uralt und Brandneu: Aus den 1920er-, 1930er-Jahren
       stammen die in Hamburg gezeigten Porträts der Anita Rée, die so nah und
       fern zugleich wirken und es schaffen, die zeitliche Distanz zwischen
       Betrachter und Gemälde aufzuheben.
       
       Denn das ist das Faszinierende an der neosachlichen Künstlerin und ihren
       Vorbildern der italienischen Renaissance: jene Ambivalenz zwischen
       Detailtreue und Kühle, aufgrund derer man gar nicht sagen kann, ob diese
       Gesichter nun besonders lebendig sind oder besonders künstlich.
       
       Auch die Technik ist alt: Da sieht man keinen Pinselstrich, so glatt
       aufgetragen ist die Farbe – als solle nichts auf den Künstler als
       handelndes Subjekt verweisen, damit das Bild umso objektiver wirkt. Genau
       das wollten die Künstler nach dem gefühlsbetonten Expressionismus, den der
       Erste Weltkrieg beendet hatte.
       
       ## Extreme Detailtreue
       
       Jetzt, nach dem Ende der Illusion vom „reinigenden“ Krieg, der auch etliche
       Künstler und Literaten das Leben kostete, ging es nicht mehr um Pathos,
       sondern um Analyse und einen klaren Blick auf die sozialen Missstände. Dass
       die extreme Detailtreue und Hypergenauigkeit der neosachlichen Bilder
       manchmal aber wieder von der Realität wegführte, hat dieser Epoche auch den
       Namen „Magischer Realismus“ eingetragen.
       
       Für die 1885 geborene, in den 1980er-Jahren wiederentdeckte Anita Rée, der
       Hamburgs Kunsthalle jetzt eine große Ausstellung widmet, war es ein weiter
       Weg zu diesem Stil. Lange hat die gebürtige Hamburgerin Cézanne, Munch,
       Kanoldt und Chirico rezipiert – mal wie dieser, mal wie jener gemalt, ohne
       ihren originären Stil zu finden.
       
       Dabei wollte sie das immer, die jüdischstämmige, evangelisch erzogene
       Tochter aus gutem Hause, die als Frau damals keine Kunstakademie besuchen
       konnte und sich in informellen Kreisen weiterbildete – zunächst beim
       Impressionisten Arthur Siebelist, später in wechseln Ateliers. Sie wollte
       nicht als malende Frau, sondern als Malerin wahrgenommen werden – und
       explizit nicht als Jüdin.
       
       ## Sie wollte hoch hinaus
       
       Wenn sie überhaupt religiöse Motive malte, waren es christliche Madonnen,
       Jesus, der Judaskuss. Vor allem wollte sie hoch hinaus, wollte
       internationale Kunst sehen und schaffen, und das ist nach einem
       dreijährigen Aufenthalt in Italien,wo sie ausführlich die Antike und
       Renaissance studierte, gelungen.
       
       Bei ihrer Rückkehr nach Hamburg 1925 gab es gleich Streit um das
       magisch-realistische Bild „Weiße Nussbäume“, einer Ansicht des Dorfs
       Positano, die sie in einer Schau der „Hamburger Secession“ zeigen wollte.
       Die Jury lehnte es als zu altmeisterlich ab, woraufhin sich Rée mit der
       Secession überwarf.
       
       Ihrem Ruhm schadete das nicht: Denn in Italien hatte sie auch ihren
       typischen Porträt-Stil – jenen individuellen Mix aus Renaissance und
       Neosachlichkeit – entwickelt, der sie bekannt machte und ihr etliche
       Aufträge eintrug – auch für zwei Wandmalereien in Schulen. Eine davon
       existiert noch, weil die damalige Schulleiterin das Bild durch eine
       Verschalung vorm Zugriff der Nazis schützte.
       
       Und Rées vor 1933 von der Hamburger Kunsthalle angekaufte Bilder hat der
       damalige Hausmeister Wilhelm Werner in seiner Dienstwohnung vor den
       Durchsuchungen der Nazis gerettet, sodass sie nicht in der NS-Schau
       „entartete Kunst“ gezeigt wurden.
       
       ## Duktus der Präraffaeliten
       
       Persönlich muss die Künstlerin, das ergaben Zeitzeugen-Befragungen der
       Hamburger Rée-Forscherin Maike Bruhns, eine oft fröhliche, temperamentvolle
       Frau gewesen sein, die enge Freundschaften unterhielt und sich gern
       inszenierte. Der damalige Kunsthallen-Chef Gustav Pauli, der sie intensiv
       förderte, schrieb, Rée sei bisweilen „schwierig und von zahllosen Hemmungen
       gelähmt“.
       
       Andere vermuten, sie habe einen zu hohen Anspruch an ihre Kunst gehabt. Den
       sie allerdings problemlos erfüllte: Sehr klar erfasst sie die eigenwilligen
       Gesichter der „Bäuerin Lionarda“ oder der „Blauen Frau“ mit Kind; scharf
       gesehen hat sie das Misstrauen des „Farbigen Mädchens“, das mit großer
       Skepsis Modell gestanden haben muss. Die „Römerin auf Goldgrund“ erinnert
       an altägyptische Mumienporträts, das Bildnis der Hildegard Heise an den
       Duktus der Präraffaeliten; Rée rezipierte eben alles, was sie sah.
       
       Am auffälligsten inszeniert wirken Rées Selbstporträts. Da posiert sie als
       selbstbewusste Frau mit rotem Hut in Hittfeld, mit kubistisch gelängtem
       Hals à la Picasso – oder als Traurige vor rotem Hintergrund. Und stets ist
       es eine Erzählung, eine Legende, die sie hier von sich selbst schafft: Die
       der Melancholikerin, wenn nicht Depressiven, am auffälligsten auf dem
       Selbstbildnis von 1930 vor fast hellgrünem Hintergrund.
       
       ## Anrührende Mutter-Kind-Bilder
       
       Denn so individuell das Porträt auf den ersten Blick wirkt, so exakt
       entspricht die ans Kinn gelegte Hand der in der Kunst üblichen
       Melancholie-Geste, wie sie etwa der befreundete Kunstwissenschaftler Aby
       Warburg in seiner „Pathosformel“ beschrieben hatte. Von ihm erfuhr sie
       auch, dass Mediziner der Renaissance die Koralle gegen „melancholische
       Fantasie“ empfahlen. Weswegen das Selbstporträt ein Korallen-Ohrring ziert.
       
       Abgesehen von ihren Treffen in Künstler-, Sammler- und
       Wissenschaftlerkreisen weiß man aber wenig über das Privatleben der
       Künstlerin, die wohl Männer und Frauen liebte und zeitlebens darunter litt,
       dass sie keine Lebenspartnerschaft fand.
       
       Umso anrührender wirken die von Picassos Kubismus inspirierten
       Mutter-und-Kind-Bilder oder das traurige Mädchen à la Edvard Munch. Genial
       erfasst auch der blinde Bettler: Der sieht einen wirklich an!
       
       Etwas befremdlich wirken dazwischen Rées mit Affen und Papageien bemalte
       Schränke, die ihr Interesse an Kulturen aus aller Welt spiegeln. Vielleicht
       war es eine Übersprungshandlung – oder eine Erholung vom eigenen hohen
       Anspruch? Vielleicht auch ein Vorbote ihrer einsamen Zeit ab 1932 auf Sylt,
       wohin sie nach Angriffen der Nazis auf ihre Wandbilder floh und fortan fast
       nur noch Schafe malte?
       
       Sie fühle sich von den Nazis in die Identität einer Jüdin gedrängt,
       empfinde sich als entwurzelt und einsam, hat sie geschrieben, kurz bevor
       sie sich am 12. Dezember 1933 das Leben nahm. In jenem Jahr schuf sie auch
       das anrührendste Bild der Hamburger Ausstellung: ein kleines Porträt ihrer
       Freundin Lotte Burk beim Besuch auf Sylt. Es ist eher impressionistisch als
       neosachlich und eine so private, liebevolle Huldigung, dass man spürt: Dies
       ist das wahre Vermächtnis, der wahre letzte Satz der Anita Rée.
       
       Anita Rée, Retrospektive: bis 4. 2. 2018, Hamburg, Kunsthalle
       
       22 Dec 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Schellen
       
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