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       # taz.de -- Kolumne Mittelalter: Oettinger, Mafia und Wikipedia
       
       > Die Verhaftung von 170 mutmaßlichen 'Ndrangheta- Angehörigen in Italien
       > und Deutschland wirbelt Staub auf – auch was die Informationen angeht.
       
   IMG Bild: EU-Kommissar Günther Oettinger am 10. Januar in Brüssel.
       
       In diesem Land kann jeder essen gehen, wo und mit wem er will. Jeder kann
       ernst nehmen, was er will, jeder kann schreiben, was er will, solange es
       stimmt, und jeder kann, das was geschrieben worden ist, wieder löschen –
       zumindest bei Wikipedia.
       
       Vor knapp sieben Jahren, im Juni 2011, schrieb die in Venedig lebende
       Mafia-Expertin Petra Reski für die taz einen [1][Artikel] „Nichts suchen,
       nichts finden“ über die bemerkenswerte Unlust deutscher Öffentlichkeit und
       deutscher Behörden, Großbauskandale wie Stuttgart 21 – oder den Berliner
       Flughafen, könnte man heute hinzufügen – auf die Interessen krimineller
       Organisationen hin zu durchleuchten. „Warum geht bei Stuttgart 21 niemand
       der Frage nach, ob nicht auch dort die Clans verdienen? Immerhin gilt
       Baden-Württemberg seit vierzig Jahren als eine Hochburg der Mafia in
       Deutschland“, schrieb Reski.
       
       Zum Thema Mafia und Ländle durfte in Reskis Text ein Verweis auf den
       Stuttgarter Restaurantbetreiber Mario L. und seine Beziehung zum ehemaligen
       Vorsitzenden der CDU-Landtagsfraktion Günther Oettinger nicht fehlen. „Der
       war Stammgast in dem Restaurant, mit Gastwirt Mario L. war er befreundet“,
       fasst die [2][FAZ ] vom Mittwoch den Sachverhalt aktuell zusammen: Aktuell
       deswegen, weil Mario L. am Dienstag in Kalabrien unter anderem wegen des
       Verdachts der Mitgliedschaft in der Mafiaorganisation ’Ndrangheta
       [3][verhaftet] wurde. Mit ihm wurden 170 Verdächtige festgenommen –
       darunter der Präsident der Provinz Crotone, ein Dutzend Bürgermeister und
       Lokalpolitiker sowie 11 Personen in Deutschland.
       
       Mario L.s Beziehung zu Günther Oettinger können wir uns mittels eines
       [4][taz-Artikels] von Rainer Nübel vom März 2010 vergegenwärtigen: „1993
       war es zur ‚Pizza-Affäre‘ gekommen, als bekannt wurde, dass der damalige
       Landesjustizminister Thomas Schäuble seinen Parteifreund Oettinger über
       Mafia-Ermittlungen gegen L. informiert hatte. Oettinger hatte regelmäßig in
       L.s Pizzeria verkehrt und ihn mehrfach Fraktionsfeste ausrichten lassen. L.
       wiederum spendete der CDU mehrere tausend Mark.“
       
       Ein Untersuchungsausschuss, nein, nicht zur Mafia, sondern zur „Praxis der
       Telefonüberwachung in Baden-Württemberg“ wurde eingesetzt und befand
       Schäubles Vorgehen mehrheitlich für in Ordnung, Oettinger distanzierte sich
       vom bisherigen Duzfreund Mario, der kam damals letztlich nur wegen
       Steuerhinterziehung dran.
       
       ## Ein Anruf von Oettinger
       
       Dies alles ist unbestritten. Trotzdem schrieb ich als betreuender Redakteur
       des Reski-Textes 2011 sorgsam und neugierig eine Mail an Oettingers Büro,
       um ihm Gelegenheit zu einer Stellungnahme zu geben. Als Reaktion rief mich
       Oettinger an, sprach immer von der „Camorra“ statt von der ’Ndrangheta,
       nannte Mario L. durchgehend „den Mario“ und fragte mich erregt, ob ich so
       was, also Reskis Text, wirklich veröffentlichen wolle.
       
       Ich wollte. Und am Dienstag, nach der Meldung von Mario L.s Verhaftung,
       wollte ich mir die Details der „Pizza-Affäre“ in einem ersten Anlauf
       schnell ins Gedächtnis zurückrufen – via [5][Wikipedia].
       
       Leider steht dort aber genau nichts über Oettingers Wandeln in der
       „Grauzone“, wie italienische Ermittler eben jenen Raum nennen, in dem die
       Organisierte Kriminalität sich Entscheidern anzudienen versucht. Nichts auf
       Deutsch und nichts in den anderen europäischen Verkehrssprachen – Oettinger
       ist schließlich EU-Kommissar.
       
       ## Einige Sätze zur „Pizza-Affäre“
       
       In der deutschen Version freilich war das nicht immer so. Ende 2004, ein
       halbes Jahr nach erstmaliger Erstellung, tauchten im Oettinger-Eintrag
       einige Sätze zur „Pizza-Affäre“ auf. Sie wurden gelöscht, dann wieder
       hergestellt, es entbrannte ein sogenannter Edit-War. Mal wurde versucht
       einzufügen, die Vorwürfe gegen Oettinger seien haltlos, mal editierte ein
       anderer Autor einen ganzen Absatz „Affäre Mario“. Kurze Zeit später wurde
       dieser gelöscht, die durch den Magen gehende Freundschaft verschwand von
       der Wikipedia-Seite Oettingers.
       
       Wer sich nun fragt, warum eine Affäre, die immerhin ein deutsches
       Landesparlament dazu brachte, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, im
       Wikipedia-Eintrag eines der Protagonisten dieser Affäre als irrelevant
       angesehen wird, der kann munter spekulieren. Aber diese Kolumne ist jetzt
       wirklich lang genug. Warten wir doch einfach mal ab, ob Mario L. was zu
       sagen hat.
       
       Mitarbeit: Raphael Piotrowski
       
       11 Jan 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /!277846/
   DIR [2] http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/schlag-gegen-die-ndrangheta-mafiosi-wie-aus-einem-tatort-15382594.html
   DIR [3] /Kommentar-Ndrangheta-Verhaftungen/!5476371/
   DIR [4] /Archiv-Suche/!5146290&s=n%C3%BCbel+oettinger+pizza/
   DIR [5] https://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%BCnther_Oettinger
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ambros Waibel
       
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