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       # taz.de -- Wahrnehmung von Musik: Bis das letzte Haar steht
       
       > Warum macht bestimmte Musik uns Gänsehaut? Hörbiografie und Gene spielen
       > da zusammen, erklärt der Mediziner Eckart Altenmüller.
       
   IMG Bild: Ein warmer Celloklang – und zack, Gänsehaut! Aber warum?
       
       Zum ersten Mal passiert es nach 50 Sekunden. Dann bei Minute 1:03. Und ab
       Minute 1:33 beinahe im Sekundentakt, wenn die Streicher einsetzen und in
       Synkopen nach vorn stürmen: Da-da-daa-da-da, da-daa-da-da,
       da-daa-da-da-da-daa!
       
       Kein anderes Musikstück bekommt so viele Standing Ovations von den Härchen
       an meinem Unterarm wie der erste Satz von Schumanns Klavierkonzert in
       a-Moll op. 54, jede Variation des Hauptthemas, jede Modulation, jede
       Kadenz lässt meinen Körper vor Wohligkeit erschauern.
       
       Klingt kitschig? Kann sein. Aber kitschig ist nun mal keine Kategorie, in
       der mein Körper denkt. Bei einer Stichprobe zähle ich während des ersten
       Satzes, der etwa eine Viertelstunde dauert, 119 Gänsehauterlebnisse, oder,
       wie es in der Fachsprache heißt, „Chill-Reaktionen“. Im Schnitt bedeutet
       das: alle acht Sekunden ein neuer Schauer. Würde es sich um Regen handeln,
       wäre meine Wohnung schneller überflutet, als das Stück zu Ende ist. Was ist
       da los?
       
       ## Ein Anruf beim Experten
       
       Ich rufe Eckart Altenmüller an, einen der führenden Forscher auf dem Gebiet
       der Neuropsychologie von Musikern und Gänsehaut-Experte. Er leitet das
       Institut für Musikphysiologie und Musiker-Medizin an der Hochschule für
       Musik, Theater und Medien in Hannover.
       
       Das Klavierkonzert in a-Moll von Schumann? „Na klar!“, ruft er und imitiert
       den Beginn, bei dem die Akkorde des Soloklaviers abwärts stürzen: „Bamm
       badaaaaam, badam, badam, badam.“ Okay, wir verstehen uns. Aber gibt es auch
       eine wissenschaftliche Erklärung dafür, warum meine Armhaare bei diesem
       Stück einfach keine Ermüdungserscheinungen bekommen, egal wie oft ich es
       höre?
       
       Altenmüller erzählt, dass er und sein Team zu Beginn ihrer Studien
       eigentlich vorgehabt hätten, die perfekte und für jeden gültige
       Gänsehautmusik zu komponieren. Mittlerweile sei klar: „Das geht wohl
       nicht.“ Persönlicher Geschmack, Hörbiografie, Genetik und gesellschaftliche
       Prägung seien einfach zu individuell.
       
       Bei einer Versuchsreihe, während der die Probanden sieben Tage
       hintereinander die gleichen Gänsehautstücke hören mussten, hätten sie
       allerdings festgestellt, dass an einigen Stellen zwar ein Gewöhnungseffekt
       stattfand, aber sich andere einfach nicht abnutzten.
       
       Durch deren Auswertung konnten sie schließlich Faktoren bestimmen, die
       Gänsehauterlebnisse in der Musik grundsätzlich fördern: etwa überraschende
       strukturelle Veränderungen, der Anfang von etwas Neuem oder die Erhöhung
       der Lautstärke. Auf die Stelle mit den Streichern – da-da-daa-da-da,
       da-daa-da-da, da-daa-da-da-da-daa! – treffen alle drei Merkmale zu.
       
       ## Musikalische Sozialisation
       
       Zu allem Überfluss bin ich auch noch die Tochter eines Pianisten und einer
       Sängerin, habe als Kind täglich Mozarts „Zauberflöte“ gehört und Klavier,
       Flöte und Saxofon gelernt. Ist der Gänsehauteffekt vielleicht auch
       genetisch veranlagt? „Genau so ist es.“ Und wer selbst Klavier spiele,
       identifiziere sich natürlich mehr damit als ein Gitarrist: „Das Klavier ist
       gewissermaßen Ihr Instrument, der Klang, den Sie sich ausgesucht haben, mit
       dem Sie geübt und viel gearbeitet haben.“
       
       Grundsätzlich sei der Klang der menschlichen Stimme am tiefsten emotional
       in uns verwurzelt: „Mit der Stimme fangen wir schon unmittelbar nach der
       Geburt an, unsere Emotionen auszudrücken“, sagt Altenmüller. Weil die
       physikalische Klangerzeugung bei Streichinstrumenten unseren Stimmlippen
       sehr ähnelt, rühren uns allerdings auch Geige, Cello und Bratsche. Ähnlich
       ist es bei den Doppelrohrblattinstrumenten wie Oboe oder Fagott und
       besonders deutlich beim Saxofon.
       
       Ich denke an die Klavierarpeggien bei Schumann, die sich anhören wie
       plätschernde Wasserfälle. Mit einer menschlichen Stimme haben die eher
       wenig zu tun, oder? „Das Klavier hat aber eine unglaubliche Klangfülle“,
       sagt Altenmüller. Wenn es lauter wird oder die Brillanz in den hohen
       Registern anhebt, unterstütze das wiederum die Gänsehaut. Und die große
       Spannbreite von sehr tiefen zu sehr hohen Tönen schaffe gewissermaßen einen
       Klang, der uns einhüllt.
       
       Altenmüller selbst hat übrigens nicht nur Medizin studiert, sondern auch
       Musik, Hauptfach: Querflöte. Was bei mir das Klavierkonzert von Schumann
       ist, ist bei ihm die Flötenarie „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ aus
       der „Matthäus-Passion“ von Bach. „Allein wenn ich Ihnen das jetzt erzähle,
       kriege ich eine Gänsehaut.“ Die starken Emotionen beim ersten Hören eines
       bewegenden Stücks werden im assoziativen Gedächtnis gespeichert.
       
       ## Die Phantom-Gänsehaut
       
       Mir fällt ein denkwürdiger Abend ein, an dem ich mit ein paar Freunden
       ausführlich über unsere jeweilige Gänsehautmusik sprach und wir sie uns
       schließlich gegenseitig vorspielten. Als ich irgendwann zum Beweis meinen
       Unterarm in die Luft hielt, fielen einer Freundin beinahe die Augen aus dem
       Kopf. „Wie jetzt?“, sagte sie fassungslos, „ich dachte, das wäre nur so
       eine Redensart.“ Tatsächlich hatte sie bisher immer nur dann eine Gänsehaut
       bekommen, wenn ihr kalt war.
       
       Ist sie etwa gefühlskalt? „Überhaupt nicht. Das ist einfach eine Richtung
       in der großen Spannbreite des menschlichen Gefühlslebens.“ Nur etwa 70
       Prozent bekommen laut Altenmüller überhaupt Gänsehautgefühle, und die
       werden nicht immer von einer sichtbaren Gänsehaut begleitet.
       
       Besonders prädestiniert seien empfindsame Menschen, die im sozialen Bereich
       arbeiten und viel kommunizieren. Die gänsehaut-immunen 30 Prozent arbeiten
       häufig in technischen Berufen, haben einen rationalen Zugang zur Welt, sind
       sehr detailliebend und „Sensation Seeker“, die starke Reize brauchen, um
       etwas zu spüren. Und, fügt Altenmüller hinzu: „Diese Menschen haben nicht
       so einen hohen Zugang zu sich selbst und nehmen oft gar nicht wahr, wie
       bewegt sie sind.“
       
       Außerdem teilen wir diese sehr persönlichen Emotionen offenbar ungern mit
       anderen Menschen. Eine Mitarbeiterin von Altenmüller bekam sehr verlässlich
       und regelmäßig eine sichtbare Gänsehaut. Verlässlich – bis ein Filmteam
       anrückte, um genau das aufzunehmen.
       
       14 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Franziska Seyboldt
       
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