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       # taz.de -- Gefangenenfreilassung in Äthiopien: Ein kleiner Hoffnungsschimmer
       
       > Äthiopien erkennt die Existenz von politischen Häftlingen an und will sie
       > freilassen. Eine Folteranstalt soll zum Museum werden. Wie kann das sein?
       
   IMG Bild: Marsch in Bishoftu zum Jahrestag des Massakers an den Oromo, 1. Oktober 2017
       
       NAIROBI taz | „Erst sehen, dann glauben“, reagiert Soliana Shimeles auf die
       Ankündigung, dass Äthiopien alle politischen Gefangenen freilassen wird.
       Die äthiopische Bloggerin gehört zur Gruppe Zone9, die unabhängige
       Meinungen über die Lage im Land publiziert. Viele ihrer Mitglieder haben
       dafür mit Gefängnis bezahlt. Shimeles selbst floh ins Ausland.
       
       Wie viele Dissidenten ist sie überrascht über die Ankündigung von
       Premierminister Hailemariam Desalegn vom Mittwoch. „Aber es gibt noch viel
       Unklarheit“, meint Shimeles. „Wann soll das geschehen? Wie viele kommen
       frei und wer?“ Keiner weiß genau, wie viele politische Gefangen es in
       Äthiopien gibt und wo sie alle sind. Von manchen hat man schon seit Jahren
       nichts mehr gehört.
       
       Zwar ließ die Regierung voriges Jahr schon Tausende von Gefangenen frei,
       die nach den schweren Unruhen vom vergangenen Sommer inhaftiert worden
       waren, aber noch nie haben die Behörden dabei von politischen Gefangenen
       gesprochen, wie es der Premierminister jetzt getan hat.
       Oppositionspolitiker, Journalisten und andere Dissidenten wurden meistens
       wegen Terrorismus verurteilt.
       
       Nicht jeder in der Regierung ist anscheinend einverstanden mit Desalegns
       Wortwahl. Regierungssprecher Zadiq Abraha sagte: „Es gibt keine politischem
       Gefangenen. Aber manche Mitglieder von politischen Parteien und andere
       Individuen werden wegen Verbrechen verdächtigt.“
       
       Einer der bekanntesten politischen Häftlinge in Äthiopien ist Bekele Ger,
       Vizevorsitzender der OFC (Oromo Federal Congres), eine Partei der größten
       ethnischen Gruppe im Land. Obwohl Äthiopien offiziell ein
       Mehrparteiensystem hat, hält die Opposition im Parlament keinen einzigen
       Sitz. Vertreten sind ausschließlich die seit 1991 regierende ehemalige
       Befreiungsallianz EPRDF (Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen
       Völker) und ihre Verbündeten. Auch als politische Häftlinge bekannt sind
       zwei Journalisten, Eskinder Nega und Woubshet Taye, die schon seit 2011 ihr
       Leben im Gefängnis verbringen.
       
       Sehr bemerkenswert ist auch das Versprechen von Desalegn, das
       Zentralgefängnis der Hauptstadt Addis Abeba zu schließen. Bekannt als
       Maekelawi (Zentral), liegt die Haftanstalt im Stadtzentrum,eingeklemmt
       zwischen einem Hotel und einer Kathedrale, und besorgt jedem im Land
       Gänsehaut. Politische Gefangene werden dort verhört und oft auch gefoltert.
       Die Zusage von Desalegn, dass aus Maekelawi ein Museum gemacht werden soll,
       hört sich an wie ein Schuldbekenntnis der Regierung.
       
       Der Premier hofft, eine nationale Versöhnung zu erreichen. Die
       überraschenden Bekanntmachungen kommen nach langen Sitzungen der
       Führungsgremien der Regierungspartei und nach Jahren von gewalttätigen und
       oft tödlichen Protesten der Bevölkerung. Hunderte von Menschen starben im
       Jahr 2016 in den schwersten Unruhen seit die Regierung 1991 an der Macht
       kam. Es ging um Landraub, Unterdrückung durch die Regierung und
       Auseinandersetzungen zwischen den zehn ethnischen Gruppen – Schattenseiten
       des äthiopischen Wirtschaftswunders, das sich seit der Jahrtausendwende mit
       jährlichen Wachstumsraten von rund 10 Prozent bemerkbar macht. Riesige
       Infrastruktur- und Investitionsprojekte wurden durchgeführt und oft wurden
       dafür Menschen verjagt, weil ihr Land für neue Betriebe, Staudämme und
       Eisenbahnstrecken gebraucht wurde.
       
       ## Die Macht liegt bei den Sicherheitsbehörden
       
       Nicht nur wurden viele Äthiopier so in den letzten Jahren aus ihren Häusern
       vertrieben – sie spürten auch kaum etwas vom Wirtschaftswunder. Noch immer
       sind rund 6 der über 100 Millionen Äthiopier jedes Jahr auf
       Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Vor allem die Volksgruppen der Oromo und
       Amhara, die zwei größten Ethnien im Land mit zusammen mehr als 60 Prozent
       der Bevölkerung, leisten den stärksten Widerstand. Sie haben sowieso großen
       Groll auf die Regierung, die von der ethnischen Gruppe der Tigray und deren
       ehemaligen Guerillaführern kontrolliert und dominiert wird – obwohl die
       Tigray nur 6 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
       
       Die Frage ist, ob Äthiopien mit der angekündigten Freilassung politischer
       Häftlinge jetzt die ersten wichtigen Schritte getan hat in Richtung einer
       Demokratisierung. Schließlich ist Premier Desalegn, der erst 2012 nach dem
       Tod seines mächtigen und langjährigen Vorgängers Meles Zenawi an die Macht
       kam, kein Tigrayer, sondern gehört einer südäthiopischen Ethnie an.
       Politiker wie Desalegn sind nicht die wirkliche Macht im Land. Die liegt
       bei den Sicherheitsbehörden. Und sind die bereit, ihre unbegrenzte Macht zu
       teilen?
       
       4 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ilona Eveleens
       
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