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       # taz.de -- Neue Comics: Zwanglos entgrenzt
       
       > Den Comiclesern Räume für Assoziationen öffnen: Jillian Tamakis
       > „Grenzenlos“ und Sacha Goergs „Das Mädchen aus dem Wasser“.
       
   IMG Bild: Szene aus Sacha Goergs „Das Mädchen aus dem Wasser“
       
       Auch wer lakonisch ist, kann viel mitteilen. Das gilt für die
       zwischenmenschliche Kommunikation ebenso wie für Literatur, Film und Comic.
       Hier zählen das Zurückhalten von Informationen, das Verschweigen von
       Gefühlen und das Fehlen von Lösungen für die aufgeworfenen Probleme zu den
       Signaturen der Modernität. Die Leserin, der Leser werden nicht mehr an die
       Hand genommen; sie sollen sich vielmehr eigenständig Imaginationsräume
       erschließen.
       
       Souverän umgesetzt ist diese Ästhetik in den neun Short Storys, die sich in
       „Grenzenlos“ von Jillian Tamaki finden. Die kanadische Comic-Künstlerin ist
       vor allem für die superbe, von ihrer Cousine Mariko getextete Graphic Novel
       „Ein Sommer am See“ (2014) bekannt. In dem aktuellen Band ist sie nun ihre
       eigene Szenaristin.Rein stofflich gesehen, sind die Geschichten recht
       unterschiedlich.
       
       In „1. Jenny“ begegnet eine junge Frau in einer rätselhaften Zweitversion
       von Facebook ihrer offenbar glücklicheren Doppelgängerin. In „Bettwanzen“
       führt ein junges, miteinander nicht allzu glückliches Paar einen teuren,
       lästigen Krieg gegen Ungeziefer. „Body Pods“ und „Darla“ erzählen davon,
       welch starken Einfluss Stars aus Filmen und Fernsehserien auf das Leben von
       Zuschauern, die sie verehren, nehmen können.
       
       ## Entfremdung und Entgrenzung
       
       Verbunden sind die Storys dadurch, dass es in ihnen immer wieder um das
       Erfahren von Entfremdung und Entgrenzung geht. Mitunter verschmilzt für die
       Figuren beides miteinander. Wie etwa in „SexCoven“, wo ein etwas
       unheimlicher Musiktrack, der von einem anonymen Urheber ins Netz gestellt
       wird, für zahlreiche Jugendliche jahrelang erheblichen Kultstatus erlangt.
       
       Entgrenzt, von den Zwängen der Konvention befreit, sind auch Tamakis
       Zeichnungen. Auf Panels und Sprechblasen verzichtet sie weitgehend;
       stattdessen erprobt sie die Möglichkeiten einer freien, fantasievollen
       Anordnung von Bildern und Texten. So muss man für die Lektüre der
       Titelgeschichte und für „Die Weltstadt“ das Buch vertikal halten, da durch
       sehr große, ineinander übergehende Bilder selbst der Rahmen der Doppelseite
       gesprengt wird.
       
       Weniger experimentell ist „Das Mädchen aus dem Wasser“ angelegt. In der
       Graphic Novel des aus der französischen Schweiz stammenden Sacha Goerg
       steigt eine junge Frau aus einem See. Sie sucht Zuflucht in der überaus
       schicken, bauhausartigen Villa, die ein Skulpturenkünstler und Architekt
       gebaut hat. Dass dieser ihr Vater war, hat Judith erst vor Kurzem,
       anlässlich seines Todes, erfahren. Als Junge verkleidet, will sie Näheres
       über ihre Ursprungsfamilie erfahren.
       
       ## Jung und kapriziös
       
       Allerdings trifft sie nicht nur auf Sonja, die Witwe, und auf ihren
       bisexuellen Halbbruder Mattew, sondern auch auf dessen Freund Hugo. Sowie
       auf den schmierigen Kunstagenten Chris, der mit seiner jungen, kapriziösen
       Geliebten Miki angereist ist.
       
       „Das Mädchen aus dem Wasser“ zeigt, wie sehr auch Weglassen gekonnt sein
       will: Im Gegensatz zu „Grenzenlos“ sind die Lücken, die Autor Goerg lässt,
       bloß Fehler im Gewebe. Die Gender-Verwirrung, die sich aus Judiths
       Kostümspiel und der Beziehung zwischen den beiden Jungen ergibt, bleibt so
       eine eher modische Andeutung.
       
       Im Grunde läuft hier ein klassisches Familiendrama ab, wie man es aus
       vielen Chabrol-Filmen kennt. Dass am Schluss dann unvermittelt Erdbeben und
       Hochwasser den Ort des Geschehens Entfremdung und Entgrenzungheimsuchen,
       ist ein recht grober Deus-ex-Machina-Eingriff. Anders wusste Goerg die
       Knoten, die er geknüpft hatte, wohl nicht zu entwirren.
       
       Weit überzeugender sind jedoch die Bilder. Sie bestehen primär aus
       Konturen. Volumen gewinnen sie erst durch die Aquarellierung, die, passend
       zur Jahreszeit, in der „Das Mädchen aus dem See“ spielt, überwiegend in
       herbstlichen Tönen gehalten ist.
       
       Mit seinem skizzenhaft-reduzierten, karikaturistisch angehauchten Stil
       gelingt Goerg sogar eine explizite Sexszene, die jeglicher pornografischen
       Peinlichkeit entbehrt und das Begehren, das zwei Menschen überfällt, mit
       fiebriger Intensität deutlich werden lässt.
       
       An dem zeichnerischen Talent Goergs besteht kein Zweifel. Eine
       Unterstützung beim Szenario hätte ihm aber zumindest bei diesem Comic nicht
       geschadet.
       
       29 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christoph Haas
       
       ## TAGS
       
   DIR Graphic Novel
   DIR Schwerpunkt Syrien
   DIR Alten- und Pflegeheime
   DIR Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
   DIR Comic
       
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