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       # taz.de -- Michel Friedman über Menschenhass: „Sie sind genau so gemeint“
       
       > Wer sich gegen Antisemitismus nur einsetzt, weil er Juden helfen will,
       > hat nicht begriffen, was Menschenhass ist, sagt Michel Friedman.
       
   IMG Bild: Wir müssen lernen, Nein zu Gewalt zu sagen, meint Michael Friedmann
       
       taz am wochenende: Herr Friedman, die Familien Ihrer Mutter und Ihres
       Vaters sind in Auschwitz ermordet worden. Ist für Sie der 27. Januar ein
       besonderer Tag?
       
       Michel Friedman: Das ist eine schwere Frage. Die Trauer über die Ermordung
       meiner ganzen Familie mit Ausnahme meiner Mutter, meines Vaters und meiner
       Großmutter seligen Angedenkens ist unendlich und begleitet mich ständig.
       Ich bin auf einem Friedhof geboren. Meine Eltern und meine Großmutter waren
       lebenslang in ihrer Seele verletzt. Trauer war eines der prägnantesten
       Gefühle in ihrem Leben. Aber genauso groß war ihr Unverständnis darüber,
       wie es möglich ist, dass Menschen andere Menschen umbringen, weil sie
       anders scheinen. Wie es möglich ist, daraus sogar eine „moral-politische“
       Notwendigkeit zu fabulieren. Meine Mutter hat mir immer gesagt: „Ich habe
       den Hass und die Gleichgültigkeit in Reinkultur erlebt. Ich kann dir, mein
       Kind, nur raten, nie zu hassen. Denn der Hass begleitet den Hassenden 24
       Stunden lang.“ Für mich ist der 27. Januar daher kein besonderer Tag, mich
       mit dem Thema des Judenhasses und der sehr konkreten Konsequenzen, die er
       auf mein Leben hatte, auseinanderzusetzen.
       
       Dieser Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus ist seit 1996
       ein bundesweiter, gesetzlich verankerter Gedenktag. Wie sollte dieses
       Gedenken konkret ausgestaltet werden? 
       
       Bevor man zur Therapie kommt, muss man die Diagnose formulieren. Nicht
       einmal ein Prozent der unmittelbaren Täter und Täterinnen, nämlich all
       jener, die in Konzentrationslagern gearbeitet haben, sind seit der Gründung
       der Bundesrepublik Deutschland vor einem deutschen Gericht zur
       Verantwortung gezogen worden. In den Auschwitzprozessen in den Sechzigern
       wurde formuliert, dass diejenigen, die nur mittelbar in Verantwortung
       stehen, nicht rechtlich belangt werden können. Das wurde erst vor Kurzem in
       der Rechtsprechung geändert. Zum ersten Mal ist ein über neunzigjähriger
       Deutscher, der damals für Fragen der „Buchhaltung“ verantwortlich war,
       wegen der Beteiligung an der Ermordung von 300.000 Juden verurteilt worden.
       Zugleich waren Millionen von Deutschen nach 1945 wieder als Polizisten,
       Verwaltungsbeamte, Politiker, Wirtschaftsführer an führenden Positionen.
       Lehrer haben wieder Kinder erzogen. Wie viele haben ihre Naziüberzeugungen
       wirklich abgelegt?
       
       Ohne Gerechtigkeit und ohne Selbstbefragung kann es kein Gedenken geben? 
       
       Der Endpunkt der Gewalt, Auschwitz, wurde nach 1945 von den meisten
       Deutschen verurteilt, aber über die Anfangspunkte der Gewalt wurde
       weiterhin nicht gesprochen. Denn da waren es doch fast alle Deutsche, die
       dabei waren. Bei der Pogromnacht in Berlin, Frankfurt oder München. In
       Städten und Dörfern brannten Religionshäuser, und niemand reagierte. Es war
       eine millionenhafte Verstrickung, als die Juden abgeholt wurden und durch
       die Finanzämter Zwangsvollstreckungen ihres Mobiliars stattfanden. Was
       bedeutet das denn, wenn mein Nachbar für wenig Geld meine Teppiche, mein
       Besteck, meine Möbel kauft? Glaubt dieser Nachbar, ich komme je wieder?
       
       Es wird viel darüber gesprochen, dass es schwierig werde, diese Erfahrungen
       zu vermitteln, weil es 73 Jahre nach Kriegsende immer weniger Überlebende
       gibt. 
       
       Ich wurde über Jahrzehnte von Schuldirektoren angerufen, die sagten: „Wir
       wollen mit den Kindern reden, aber wir brauchen Zeitzeugen, es gibt so
       wenige Überlebende.“ Ich habe dann gesagt: „Sie irren sich, es gibt
       Millionen Überlebende. Fragen Sie Ihren Vater oder Ihren Großvater.“ Das
       Gedenken ist die Aufgabe der deutschen Gesellschaft gewesen. Die Täter und
       deren Kinder mussten sich die Frage stellen: Wie konnten wir so werden? Und
       sie mussten symbolisch zum Ausdruck bringen: Wir lernen. In Wirklichkeit
       verschonten sich die Tätergeneration und ihre Kinder aber weitgehend. Sie
       stritten eben nicht genügend zu Hause. Ralph Giordano nannte das die
       „zweite Schuld“. Die Enkel der Nazigeneration sind jetzt ebenfalls
       erwachsen. Es gibt viele engagierte Menschen, auch in der jüngeren
       Generation, die sich mit ihren Familiengeschichten auf der Täterseite
       auseinandersetzen. Aber dennoch ist in der Mehrheit im Alltag zu wenig
       geschehen, als dass in der Erinnerungskultur ein zuverlässiges Fundament
       entstanden wäre.
       
       Vor einer Woche hat der Bundestag beschlossen, einen
       Antisemitismusbeauftragten einzusetzen. 
       
       Ich würde den Begriff des Antisemitismus gerne präzisieren. Es geht um
       Judenhass. Und es geht um Menschenhass. Judenfeindlichkeit ist
       Menschenfeindlichkeit. Wenn Menschenfeindlichkeit auftritt, erwarte ich von
       Ihnen und von jedem anderen, sein Gesicht zu zeigen, weil er selbst gemeint
       ist. Solange ich als Jude ein Mensch für Sie bin und man mich als solchen
       angreift, sind Sie genau so gemeint, auch wenn Sie kein Jude sind. Wer sich
       nur einsetzt, weil er Juden helfen will, hat nicht begriffen, was
       Menschenhass ist. Er hilft mir nicht und sich selbst auch nicht.
       
       Der Antisemitismusbeauftragte wurde mit Stimmen der AfD beschlossen. 
       
       Teile der Führungsstruktur der AfD haben Hass zu einem Bestandteil ihrer
       politischen Aussage gemacht. Dieses Führungspersonal wird nicht aus der
       Partei geworfen, während ein anderer Teil der Partei für die Einsetzung
       eines Antisemitismusbeauftragten stimmt. Das ist Heuchelei. Geistige
       Brandstiftung bleibt geistige Brandstiftung. Wie kann ein politischer
       Repräsentant am 27. Januar den Satz „Wehret den Anfängen“ in den Mund
       nehmen, in Anbetracht der Enthemmungen in unserer Gesellschaft? Rassismus
       und Judenhass sind salonfähig geworden. In unserem Parlament sitzt eine
       Partei, deren Spitzenfunktionäre erklären, dass sie stolz sind auf die
       Leistungen der Wehrmacht, wobei jeder weiß, dass die Soldaten der Wehrmacht
       zwar das allgemeine Kriegsunglück erleiden mussten, aber auch an
       Massenerschießungen aktiv teilnahmen. Was macht es mit uns, wenn diese
       Partei eine Relativierung des Gedenkens an Auschwitz durch Leute wie Höcke
       oder Gauland zulässt und wir nicht aktiv werden? Die Auseinandersetzung mit
       den Anfängen findet entweder statt, oder die Gesellschaft vergiftet sich in
       kleineren bis größeren Dosen immer wieder.
       
       Verfolgt man die Debatte der vergangenen Wochen, könnte man meinen,
       „importierter Antisemitismus“ sei das größte Problem. 
       
       Es gibt seit Jahrzehnten einen Sockel von zehn bis zwanzig Prozent der
       Bevölkerung in Deutschland, die unabhängig von Bildung und Einkommen
       judenfeindliche Einstellungen hegen. In den letzten Jahren ist eine weitere
       Gruppe aufgetreten, Menschen, die aus arabischen Ländern kommen, Muslime,
       wobei die Betonung auf arabischen Ländern liegt. In den dortigen Diktaturen
       sind diese Menschen mit einem Feindbild aufgewachsen: Der Teufel, das sind
       die Juden. Die Juden, das ist der Staat Israel, und beide müssen eliminiert
       werden. Es ist richtig, über diese neue Form des Antisemitismus zu
       sprechen. Aber es ist wichtig, daran zu erinnern, dass laut der Berichte
       des Bundesinnenministers weiterhin neunzig Prozent der Gewaltakte gegen
       Juden von der deutschen, nichtmuslimischen Bevölkerung ausgehen. Der
       Judenhass ist keine deutsche Erfindung. Aber Auschwitz ist eine.
       
       Es wurde diskutiert, ob Besuche in KZ-Gedenkstätten für Schüler
       verpflichtend sein sollten. 
       
       Es ist richtig, die Perspektive der Opfer einzunehmen. Aber
       Geschichtslernen heißt: Ich muss mich konzentrieren auf die Strukturen, die
       Ursachen, die Verantwortlichkeiten. Wie viele Anfangspunkte der Gewalt
       wurden hingenommen? Wie sehr hat sich dadurch mein eigenes
       Koordinatensystem verschoben, bis es in eine Situation mündet, wo die
       Gewalt scheinbar nicht mehr aufzuhalten ist? Geistige und körperliche
       Gewalt findet aber bereits vorher statt. Immer wieder gibt es den Punkt,
       Nein zu sagen. Das müssen wir lernen, weil uns diese Fragen in der
       Gegenwart genauso betreffen.
       
       Was heißt das für die Erziehungsarbeit? 
       
       Es gibt etwas, das ich jungen Leuten vermitteln möchte: Sie müssen sich
       streiten, den Konflikt aufnehmen, sich zu Wort melden, ihr Gesicht zeigen,
       wenn in der Familie, in der Schule, im Verein Menschenverachtung, geistige
       Brandstiftung und damit Gewalt stattfindet – und sei es „nur“ in einem
       rassistischen Witz. Jedes Mal, wenn man so etwas überhört, verstrickt man
       sich in Mittäterschaft. Das Sich-Streiten ist die Verfestigung der eigenen
       Orientierung. Zu Hause und in der Schule müssen solche Prozesse geübt und
       positiv besetzt werden. George Tabori hat gesagt: „Jeder ist jemand.“ Das
       sagt eigentlich alles. Jetzt gibt es wieder Politiker, die sagen, dass es
       Menschen gibt, die niemand sind. Dann haben nicht nur diejenigen Menschen,
       die als niemand gesehen werden, ein Problem, sondern vor allem diejenigen,
       die die Welt so betrachten. Und am meisten diejenigen, die so tun, als ob
       sie nichts damit zu tun haben.
       
       28 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Gutmair
       
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