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       # taz.de -- Kommentar Holocaust-Gedenktag: Rituale allein reichen nicht
       
       > Antisemitismus nimmt zu, die Erinnerungskultur hat versagt. Solange der
       > Staat jüdische Kinder nicht schützt, sollte er Privatschulen für sie
       > bezahlen.
       
   IMG Bild: Ein Mann mit Blumen vor einem Gedankstein in Teltow, Brandenburg (Archivbild 2015)
       
       Es gibt nicht vieles, auf das man in Deutschland so stolz ist wie auf die
       Erinnerungskultur und die Aufarbeitung des Holocaust, dem größten
       Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Gedenkstätten, Mahnmale,
       Stolpersteine, Gespräche mit Zeitzeugen, eine Vielzahl an Dokumentationen
       und Veranstaltungen. Am heutigen 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, ist
       es wieder so weit. Politiker werden sagen, dass der Völkermord an den Juden
       eine unfassbare moralische Katastrophe war, aus der die immerwährende
       Verantwortung Deutschlands erwachse, so etwas nie wieder zuzulassen. Wehret
       den Anfängen!
       
       Das Problem ist nur: Niemand wehrt den Anfängen. Antisemitismus ist heute
       im deutschen Alltag wieder so verbreitet und so laut, dass nicht wenige
       jüdische Eltern ihre Kinder anweisen, in der Schule lieber nicht zu sagen,
       welcher Religion sie angehören. Denn wer es tut, dem kann es ergehen wie
       dem 14-jährigen Jungen an der Gemeinschaftsschule Friedenau in Berlin, der
       von seinen muslimischen Mitschülern gemobbt, verprügelt und schließlich
       scheinhingerichtet wurde. Dutzende ähnliche Fälle werden auch aus anderen
       Teilen Deutschlands [1][berichtet].
       
       Die Vertreter des Staats reagieren durchweg mit bemerkenswerter
       Gleichgültigkeit. In Dresden waren es dann auch nicht Lehrer, sondern eine
       Schülerin, die ihre Klassenkameraden wegen Volksverhetzung [2][anzeigte].
       In ihrer Klasse war es unter anderem cool geworden, den Handyakku auf 88
       Prozent zu laden – 88 ist der Nazi-Code für „Heil Hitler“ – und Bilder von
       Rauchwolken als „jüdische Familienfotos“ zu bezeichnen.
       
       Nun soll die Bundesregierung einen Antisemitismusbeauftragter berufen. Und
       die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli fordert neuerdings [3][einen
       verpflichtenden Besuch in einer KZ-Gedenkstätte] für alle Schüler und
       Neubürger. Beides sehr ehrenwert. Doch soll das ernsthaft eine Strategie
       gegen Antisemitismus sein? Der Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen,
       Günter Morsch, wehrt sich gegen die Vorstellung, NS-Gedenkstätten als
       antifaschistische Durchlauferhitzer zu verstehen. Zu Recht.
       
       Solche Forderungen zu erheben und einen neuen Beauftragten einzusetzen, ist
       leichter als sich das Unvermeidbare einzugestehen: Die deutsche
       Erinnerungskultur ist gescheitert. Ihr ist es auch nach Jahrzehnten nicht
       gelungen, Antisemitismus zurückzudrängen. Alte antisemitische Klischees wie
       das des Kindermörders und Brunnenvergifters tauchen beim Antiisraelismus
       und Antizionismus sogar neu und immer enthemmter auf. Es scheint, als wäre
       ein Damm gebrochen.
       
       Dennoch wird in den Schulen häufig die NS-Vergangenheit noch immer so
       unterrichtet, als habe man es, die Herkunft der Schüler betreffend, mit
       homogenen Klassen zu tun. Dabei liegt seit Jahren auf der Hand, dass für
       Schüler aus muslimischen Ländern andere Konzepte und Anknüpfungspunkte
       gebraucht werden. Ähnliches dürfte auf die Kinder aus russlanddeutschen
       Aussiedlerfamilien zutreffen, eine Minderheit, die überproportional stark
       in der AfD zu finden ist.
       
       Tatsache ist, dass 73 Jahre nach Auschwitz ein jüdisches Kind nicht
       gefahrlos auf eine ganz normale deutsche Schule gehen kann. Die betroffenen
       Familien weichen auf jüdische wie nichtjüdische Privatschulen aus. [4][Auch
       der antisemitisch gemobbte Junge aus der Gemeinschaftsschule Friedenau]
       geht inzwischen auf eine solche Privatschule. Dass die Eltern selbst für
       die Schulgebühren aufkommen müssen, ist so skandalös und beschämend wie das
       antisemitische Mobbing selbst. Solange der Staat und seine Institutionen
       den Schutz jüdischer Schulkinder nicht sicherstellen können, wäre es das
       Mindeste, diese Kosten zu übernehmen.
       
       Stattdessen werden Reden gehalten und Kränze niedergelegt.
       Erinnerungsrituale können wichtig sein, sogar identitätsstiftend. Aber wenn
       sich der Kampf gegen Antisemitismus auf sie verengt, sind sie
       bedeutungslos.
       
       27 Jan 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://nrw-direkt.net/keine-reaktionen-auf-mobbing-juedischer-schueler/,%20https://taz.de/!5475809/
   DIR [2] http://www.spiegel.de/lebenundlernen/sc3hule/dresden-schuelerin-zeigt-mitschueler-wegen-nazi-spruechen-an-a-1176932.html
   DIR [3] /Pflichtbesuch-im-ehemaligen-KZ/!5472544
   DIR [4] /Antisemitismus-in-Berlin/!5397470
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Silke Mertins
       
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