URI: 
       # taz.de -- Der Hausbesuch: Diese Frau ist ein Ereignis
       
       > Carol McCollins-Kreyenborg ist Augenoptikerin. Und Gospelsängerin. „Wenn
       > alle mitsingen und tanzen, sind die Sorgen weg“, sagt sie.
       
   IMG Bild: Ohne Musik geht gar nichts: Carol McCollins-Kreyenborg
       
       Zu Besuch bei Carol McCollins-Kreyenborg in Berlin-Neukölln. Sie ist 61
       Jahre alt und im Hauptberuf Augenoptikerin. In einer Kirche tritt sie
       regelmäßig als Gospelsängerin auf. Mit glitzerndem Kleid und tiefer Stimme
       reißt sie die Gemeinde mit, auf der Straße wird sie manchmal darauf
       angesprochen.
       
       Draußen: Hunderte von Menschen laufen am Samstagnachmittag mit Plastiktüten
       in den Händen die Sonnenallee hinunter, eine der Magistralen des Bezirks
       Neukölln. Falafelläden, Handyshops und Shisha-Bars sind voll, auch der
       Netto und die Bio-Company, das Hipster-Café um die Ecke. Gemüsehändler
       rufen, AutofahrerInnen hupen. Carol McCollins-Kreyenborg wohnt neben einem
       Spätkauf und einer Konditorei, die Leute stehen dort in einer langen
       Schlange zwischen Baklavapyramiden und dekorierten Torten.
       
       Drinnen: „Das Ausspucken von Sonnenblumenkernen ist untersagt“, steht auf
       Deutsch und Arabisch im Treppenhaus. Die Konditorei riecht man noch im
       zweiten Stockwerk. Oben, in einer aufgeräumten hellen Wohnung, ist Carol
       McCollins-Kreyenborg seit 36 Jahren zu Hause. Sie wohnt hier mit ihrem Mann
       Jens Kreyenborg, die zwei erwachsenen Töchter sind längst ausgezogen. Im
       Flur hängen Urkunden und ein Holzkruzifix, im Wohnzimmer ein riesiger
       goldgerahmter Spiegel sowie von FreundInnen gemalte bunte Bilder. Auf dem
       weißen Klavier stehen Familienfotos und Partituren von Frank Sinatra,
       verteilt im Raum eine Sammlung von Blas- und Saiteninstrumenten aus aller
       Welt. Darunter ist eine Gitarre, die ein Freund extra für die Länge von
       McCollins-Kreyenborgs Finger angefertigt hat.
       
       Musik: Auf der Gitarre wird vor allem gespielt, wenn die drei Enkeltöchter
       zu Besuch sind. Carol McCollins-Kreyenborg zeigt ein Video auf ihrem Handy,
       in dem sie zusammen tanzen und singen. Früher haben die Töchter Klavier
       gespielt. „Wir nannten uns ‚Die Kreyenborg-Sisters‘.“ Mit der Ältesten sang
       sie bei einem Solikonzert im November das erste Mal außerhalb des
       Wohnzimmers ein Mutter-Tochter-Duett. „Die Musik verbindet uns“, sagt sie.
       Auf der karibischen Insel Trinidad und Tobago, wo sie geboren ist, „geht
       ohne Musik gar nichts“. Ihre Mutter sang aus Leidenschaft, ihr Vater war
       Opernsänger. Sie selbst war als Kind im Kirchenchor. Bald komponierte sie
       eigene Lieder und nahm an Fernsehshows und Wettbewerben teil. Wenn
       McCollins-Kreyenborg auf dem Altar der Berliner St.-Christophorus-Kirche
       „Awesome“ von Charles Jenkins singt, strahlt sie. „Gospel ist meine Art,
       Menschen zu bewegen“, sagt sie. „Wenn alle mitsingen und tanzen, sind die
       Sorgen weg.“
       
       Stimmen: McCollins-Kreyenborg hat bei kleineren Veranstaltungen auch schon
       Soul, Pop und Klassik gesungen. Doch von der Musik zu leben habe sie nie
       versucht, sagt sie, da sei sie realistisch. „Sinatra ist nicht mein Onkel.“
       
       Aussehen: Vor 36 Jahren, als sie in Berlin ankam, sah man schwarze Menschen
       in Deutschland seltener, erzählt McCollins-Kreyenborg. „Oh God, this big
       big white World – oh Gott, diese große weiße Welt“, sagte sie ihrer Mutter
       am Telefon. „Ich fühlte mich beobachtet, als wäre ich ständig auf einer
       Bühne.“ Sie habe gelernt, damit umzugehen, sagt sie. Wenn heute Kunden das
       erste Mal ihren Optiker-Laden betreten, seien einige zunächst irritiert.
       „Manche überrascht es noch, dass ich die Chefin bin“, sagt sie. Sie
       versuche, immer das Positive zu sehen, Menschen seien eben neugierig. Auch
       wenn sie mit ihrem Mann ins Theater oder in die Oper gehe, würden sie
       gemustert. Er sagt dann: „Das ist, weil du so hübsch bist.“
       
       Erinnerungen: Mit 18 ging McCollins ins Kloster und blieb dort drei Jahre,
       leistete Missionsarbeit und sang weiterhin Gospel. „Dann traf ich Jens und
       merkte, dass meine Berufung eine andere ist.“ Der junge Ingenieur war in
       Trinidad, um Instrumente für seine Hobbysammlung zu kaufen. Sie verknallten
       sich bei einem Musikfestival. Sie half auf der Bühne, sprang hinunter. „Ich
       bin direkt in seinen Armen gelandet.“
       
       Lovestory: Mit einem versteckten Hochzeitskleid im Koffer kam sie in Tegel
       an. Eine Kollegin in Trinidad hatte vor Kurzem geheiratet und sagte ihr:
       „Du wirst diesen Mann heiraten, nimm mein Kleid mit.“ McCollins kannte Jens
       Kreyenborg erst seit vier Monaten und wollte ihm keine Angst einjagen. Als
       sie dann tatsächlich heirateten, wollte sie in Jeans und T-Shirt zum
       Standesamt. Die Idee, eine Kutsche zu mieten, war am Anfang nur ein Witz.
       Aber Jens Kreyenborgs Chef sagte ihm: „Machen Sie das, es ist nur einmal im
       Leben.“ Also schaffte er sich einen Smoking an. Und sie packte doch ihr
       weißes Kleid aus. „Honey, holst du das Fotoalbum bitte?“, ruft
       McCollins-Kreyenborg aus der Küche. Bilder des jungen Brautpaars in der
       Kutsche auf der Straße des 17. Juni. Eine Grillgesellschaft im Tiergarten,
       Würstchen, Hochzeitstorte, musizierende und tanzende Menschen.
       
       Schicksal: Kurz darauf kam die erste Tochter zur Welt. Mit einem
       Augenfehler. „Wenn Sie Ihrem Kind helfen möchten, machen Sie eine
       Ausbildung im Optiker-Bereich“, riet ein Arzt McCollins-Kreyenborg. Obwohl
       sie noch nicht gut Deutsch sprach, bewarb sie sich um einen
       Ausbildungsplatz, bekam Absagen. Dann erwischte sie den Chef eines Ladens.
       „Er guckte mich von oben bis unten an, aber gab mir eine Chance.“ Sie wurde
       Augenoptikerin und liebte ihren Beruf so sehr, dass sie auch den Meister
       machte. „Ich bin dankbar, dass mein Schicksal mich zu derjenigen gemacht
       hat, die ich heute bin.“
       
       Energie: „Du bist ein Ereignis, ein Sturm“, sagen ihre FreundInnen. „Du
       kommst, gehst und bleibst in Erinnerung.“ McCollins-Kreyenborg erkennt sich
       in diesen Zuschreibungen wieder. An Energie habe es ihr nie gefehlt. „Wenn
       ich etwas im Kopf habe, mache ich das. Wenn jemand sagt, du schaffst das
       nicht, sage ich: Doch, ich schaffe das schon.“ Ihre Mutter, „eine sehr
       weise Frau“, habe sie so erzogen. Sie wird 95, ihren Geburtstag wollen sie
       gemeinsam in Trinidad feiern.
       
       Heimat: 2016 waren sie das letzte Mal auf der karibischen Insel. Es gab
       eine Überraschungsparty für Carols 60. Geburtstag in der Kirche, in der sie
       als Kind gesungen hatte. „Es war wunderschön“, sagt sie. Dann kam
       Weihnachten, das erste in 36 Jahren, das sie nicht in Deutschland
       verbrachte. „Ich vermisste den Geruch von frisch gebackenen Plätzchen.“ Zum
       ersten Mal fühlte sie sich gespalten. „Ich konnte mich nicht entscheiden,
       wo meine Heimat ist“, sagt sie. Ihr kommen die Tränen, wenn sie an die
       Freude ihrer Gemeinde denkt, als sie nach dieser Reise wieder in Berlin
       auftauchte. „Das sind keine traurigen Tränen“, erklärt Carol
       McCollins-Kreyenborg mit Taschentuch in der Hand. „Ganz im Gegenteil, mein
       Leben könnte nicht schöner sein.“
       
       1 Feb 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Luciana Ferrando
       
       ## TAGS
       
   DIR Der Hausbesuch
   DIR Der Hausbesuch
   DIR Der Hausbesuch
   DIR Der Hausbesuch
   DIR Der Hausbesuch
   DIR Der Hausbesuch
   DIR Der Hausbesuch
   DIR Der Hausbesuch
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Der Hausbesuch: Beinahe wie ein Ehepaar
       
       Dirk und Stephan lernten sich auf der Straße kennen, sie waren obdachlos.
       Sie gaben eine Anzeige auf: „Vermieter mit Herz gesucht“. Und fanden ihn.
       
   DIR Der Hausbesuch: Gehen wie ein Baum
       
       Wächst man in der Westberliner Boheme auf, ist Behinderung auch nur eine
       Form von Anderssein. Zu Besuch bei Marcel Mühlenhaupt.
       
   DIR Büchnerpreisträgerin Elke Erb: Mit den Gedanken fliegen
       
       Nach dem Krieg zog ihre Familie von der Eifel in die DDR. Beim Versuch, den
       Sozialismus zu verstehen, entdeckte Erb die Poesie. Ein Hausbesuch aus
       2018.
       
   DIR Der Hausbesuch: Traubenkirsche geht gar nicht
       
       Er will die Schönheit der Natur den Städtern nahebringen. Hans Lippert lebt
       im Berliner Stadtwald und liebt alle Bäume – bis auf einen.
       
   DIR Der Hausbesuch: Liebe in der Parallelwelt
       
       Für ihren Enkel heißt sie „Marmeladenoma“. Und seit er sie überredete, auf
       YouTube Märchen vorzulesen, heißt sie für viele andere auch so.
       
   DIR Der Hausbesuch: „Ich bin nicht euer Vorzeige-Kanake“
       
       15 Jahre in der sächsischen Provinz gingen an Edris Zaba nicht spurlos
       vorbei. Heute lebt der gebürtige Afghane in Leipzig und hilft Geflüchteten.
       
   DIR Endlich 18 – Der Hausbesuch: Schneller als alle Hater
       
       Keshia Kwadwo ist eine der größten Nachwuchshoffnungen der deutschen
       Leichtathletik. Die 18-Jährige will Polizistin werden.