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       # taz.de -- Debatte Britischer Kolonialismus: Sehnsucht nach dem Empire
       
       > In Großbritannien streitet man über die Bedeutung des Kolonialismus:
       > Vorbild für erfolgreiche Entwicklungshilfe oder rassistische Ausbeutung?
       
   IMG Bild: Der Bau der ersten Eisenbahnstrecke in Kenia geht auf die Briten im 19. Jahrhundert zurück (Archivbild 1973)
       
       Endlich sagt es mal einer: Das Vereinigte Königreich kann auf seine
       Kolonialgeschichte stolz sein! Ostafrika etwa bekam eine eigene Eisenbahn,
       und in Mombasa, heute Dreh- und Angelpunkt der kenianischen Wirtschaft,
       wurden die schäbigen Fischerhütten durch einen ordentlichen Hafen ersetzt.
       Schon möglich, dass dabei einige Menschen zu Tode kamen – aber so ist das
       nun einmal mit einem Empire: es geht ums Große, nicht um den Einzelnen.
       Darauf müsse man endlich wieder stolz sein können – meint zumindest der
       Oxforder Theologieprofessor Nigel Biggar im britischen Sunday Telegraph.
       
       Und er kriegt viel Applaus dafür: Nicht nur viele konservative Briten
       halten Kolonialismus für erfolgreiche Entwicklungshilfe mit falschen
       Mitteln. Noch 2016 gaben 44 Prozent der Briten in einer YouGov-Umfrage an,
       stolz auf den Kolonialismus zu sein. Bei den Wählern der regierenden
       Konservativen waren es sogar fast 60 Prozent der Befragten. Biggar ist also
       kein Einzelfall: Er ist das akademische Sprachrohr einer
       Gesellschaftsschicht, die den Kolonialismus für ein sinnvolles und
       ehrenwertes Unterfangen hält.
       
       Wer so ein Urteil fällt, hat entweder ein ziemlich sonderbares
       Moralverständnis oder verklärt historische Fakten. Fangen wir also bei den
       Fakten an. So komplex die Auswirkungen des britischen Kolonialismus waren,
       so simpel war sein Kern: ein zielgerichtetes Unterwerfungssystem, um
       Rohstoffe und andere Menschen auszubeuten. Er entsprang einem Weltbild, das
       dunkelhäutige Menschen weißen unterordnete – daran lassen Dokumente der
       Zeit keinen Zweifel. Das kann auch Biggar nicht dementieren. Wie
       funktioniert also diese Verklärung?
       
       Biggar bedient sich eines rechten Taschenspielertricks: Er wandelt die
       Kolonialgeschichte in eine moralische Milchmädchenrechnung um. Auf der
       einen Seite: die Massaker von Amritsar (Indien), die
       Buren-Konzentrationslager in Südafrika und die systematische Folter und
       anschließende Ermordung von 100.000 Mau-Mau-Aufständischen in Kenia. Auf
       der anderen Seite: die Unterbindung des Sklavenhandels nach 1833,
       Infrastrukturprojekte und bürokratische Institutionen. Hält sich doch in
       etwa die Waage, oder?
       
       Die Kritik bleibt zu Recht nicht aus. Im britischen Fernsehen und Parlament
       wird hitzig gestritten, und in offenen Kritikbriefen stellen sich 260
       Akademiker aus der ganzen Welt gegen diese Argumentationsweise. Schon 1950
       kritisierte der Intellektuelle Aimé Césaire diese bilanzierende Praxis als
       „balance sheet view“: Es verschleiere das menschliche Leid und die
       vollkommene Zerstörung von Gesellschaften und Lebensweisen zugunsten eines
       mathematischen Prinzips.
       
       ## Günstige Gleichung – für das Empire
       
       Aber Biggar geht noch einen Schritt weiter, als diese Milchmädchenrechnung
       aufzustellen: Er relativiert die Gewalt, um die Gleichung zugunsten des
       Empires ausfallen zu lassen. „Es gab unentschuldbare Gewalt, aber die gab
       es vor und nach dem Kolonialismus“, argumentiert er und stellt den
       afrikanischen Kontinent als ein Schlachthaus dar. „Die britische Justiz“
       dagegen, „war hart, aber sie konnte nicht gekauft werden.“ Afrikanische
       Geschichte ist in dieser Sicht vor allem die Geschichte von weißen Männern
       in Afrika. Davor und danach: Dunkelheit, Mord und Totschlag.
       
       Tatsächlich leiden viele der ehemaligen Kolonialländer unter chronischen
       Kriegen. Oft liegt der Kern der Konflikte aber genau dort, wo Biggar deren
       Lösung zu finden glaubt: im kolonialen System. So sind die willkürlich mit
       dem Lineal gezogenen Grenzen in Afrika oder die Aufteilung von Indien und
       Pakistan Maßnahmen der britischen Kolonialmächte, unbestreitbar ein Grund,
       warum viele Konflikte anhalten und immer wieder aufflammen.
       
       Und die Geschichte der britischen Kolonialjustiz ist ebenfalls weitaus
       weniger ruhmreich, als Biggar und andere sie darstellen: Das umfangreiche
       Werk „Histories of the Hanged“ seines ehemaligen Oxforder Kollegen David
       Anderson über systematische Folter von Zeugen und die korrupten Verfahren
       gegen den zukünftigen Präsidenten Kenias, Jomo Kenyatta zeichnen ein sehr
       viel kritischeres Bild. Dass Kolonialgouverneur Baring 1952 etwa dem
       Oberstaatsanwalt eine höhere Pension im Gegenzug für eine Verurteilung des
       Unabhängigkeitskämpfers versicherte, ist also Zeichen einer „unkäuflichen
       Justiz“?
       
       ## Leugnung der Strukturen
       
       Das Gefährliche an Biggars Kommentar ist aber nicht die gezielte
       Umschreibung der Geschichte. Es ist die Perspektive, die sie auf die
       Gegenwart und Zukunft entwickelt. Wenn sich die Gegenwart nicht in dieses
       Narrativ einfügt, wird sie verleugnet. So ignoriert Biggar, wie diese
       Strukturen bis heute mehr oder weniger verdeckt weiterwirken.
       
       Installierte Machtstrukturen wirken bis heute, ob in den belgischen
       De-Beer-Minen im ehemals belgischen Kongo oder in den
       britisch-niederländischen Shell-Ölraffinerien in Nigeria. Auch den
       Irakkrieg hält Biggar übrigens für sinnvoll und entwickelt daraus eine
       Zukunftsperspektive: In Zukunft sollten die Briten mehr militärischen
       Einsatz in ihren ehemaligen Hoheitsgebieten zeigen; dazu zitiert er
       ausgiebig einen Artikel des US-amerikanischen Politologen Bruce Gilley.
       Dessen Schlusspointe: „Rekolonialisiert den globalen Süden“!
       
       Ja, endlich sagt es mal einer. Endlich tritt damit in die Öffentlichkeit
       und die Debatte, was sonst hinter verschlossenen Türen seit Jahren gedacht
       wird. Biggars Verklärung des Kolonialismus ist Teil eines Gedankenguts, aus
       dem 2016 die Sehnsucht nach einem Empire und der Wunsch nach einem
       erstarkenden Königreich entsprangen. Es ist Teil jenes Gedankenguts, das
       die britische Außenpolitik der kommenden Jahre erheblich mit prägen wird.
       
       Und die Perspektive auf die Gegenwart und Zukunft, die sich daraus ergibt,
       ist so verzerrt wie beängstigend. Eine beachtliche Gesellschaftsschicht hat
       nun ein rassistisches und gewaltverherrlichendes Narrativ zur Verfügung,
       versehen mit dem seriösen Stempel der bedeutendsten Universität des Landes.
       Es ist höchste Zeit, dass solches Gedankengut öffentlich konfrontiert wird.
       
       2 Feb 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Paul Ostwald
       
       ## TAGS
       
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