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       # taz.de -- Michael-Wolf-Ausstellung in Den Haag: Leben wie im Puppenhaus
       
       > Menschen in U-Bahnen und Hochhausfassaden: Das Fotomuseum Den Haag zeigt
       > die Schau „Life in Cities“ des Fotografen Michael Wolf.
       
   IMG Bild: Michael Wolf, Architecture of Density, Hongkong 2003-2014
       
       In den U-Bahn-Stationen von Tokio arbeiten sogenannte Pusher. Das sind
       Mitarbeiter in dunklen Anzügen und mit Schirmmützen und weißen Handschuhen,
       deren Aufgabe darin besteht, mit vollem Körpereinsatz möglichst viele
       Passagiere in die überfüllten Waggons zu drücken, bevor oder bereits
       während sich die Türen schließen. Buchstäblich eingepfercht wie die
       Ölsardinen fahren diese Menschen morgens in die Büros und Geschäfte und
       abends wieder zurück in ihre Wohnungen.
       
       Der deutsche Fotograf Michael Wolf hat diese Passagiere porträtiert. Er hat
       sich auf den Bahnsteig gestellt und in die Züge hinein fotografiert.
       Entstanden sind dabei sehr nahe und persönliche, melancholische bis
       bedrückende Fotografien von Fremden, die für wenige Augenblicke vor seinem
       Objektiv erschienen und damit in sein Leben traten, bevor ihre Reise
       weiterging und sie in den dunklen Tunnel des U-Bahn-Systems verschwanden.
       
       Es sind meist müde, oft abwesend wirkende und an die beschlagenen
       Glasscheiben gepresste Gesichter – die Tropfen des herunterlaufenden
       Kondenswassers wirken dabei wie Tränen.
       
       Die Männer und Frauen dösen vor sich hin, manche mögen sogar schlafen,
       andere hören Musik, um der unmenschlichen Enge zumindest mental entfliehen
       zu können. Vereinzelte schauen direkt in Wolfs Kleinbildkamera – aber ihr
       Blick wirkt nicht überrascht oder gar ablehnend, sondern resigniert und
       gleichgültig: Sie beobachten den Fotografen, der wiederum sie beobachtet in
       dieser unfreiwillig intimen und zugleich öffentlichen Situation.
       
       ## Porträts, die fast anklagend wirken
       
       Genauso öffentlich sind diese Fotografien aus der Serie „Tokyo Compression“
       nun ausgestellt, denn sie hängen direkt im Eingang zur Retrospektive „Life
       in Cities“ von Michael Wolf, die aktuell im Fotomuseum Den Haag zu sehen
       ist und die Ende des Jahres im Haus der Photographie in Hamburg gastieren
       wird.
       
       Fast anklagend wirken diese Porträts vom anderen Ende der Welt, und obwohl
       sie natürlich ein sehr japanisches Phänomen zeigen, sind die Fragen, die
       sie aufwerfen, universell: „Unter welchen Bedingungen leben und arbeiten
       wir, was lassen wir alles mit uns machen, welchen Preis müssen wir dafür
       zahlen und vor allem: wofür eigentlich?“
       
       Diese Fragen ziehen sich wie ein roter Faden durch fast das gesamte
       künstlerische Werk des 1954 in München geborenen Michael Wolf. Seine Eltern
       zogen mit ihm in die USA, doch zum Fotografie-Studium bei Otto Steinert an
       der Essener Folkwang kam er 1972 zurück nach Deutschland. Mitte der 1990er
       Jahre ging er schließlich als Fotokorrespondent für den Stern nach
       Hongkong, wo er bis heute lebt.
       
       Ausgerechnet Hongkong! Es gibt kaum eine Stadt mit höheren
       Lebenshaltungskosten, allein die Miete für eine 30-Quadratmeter-Wohnung
       übersteigt das Einkommen eines Universitätsabsolventen. In Hongkong gibt es
       die berüchtigtsten Rooftop Communities, illegale Baracken auf
       Hochhausdächern, genauso wie die Sozialbaukomplexe mit ihren 9 Quadratmeter
       kleinen Einraumwohnungen.
       
       ## Kein Ausweg, keine Hoffnung
       
       Wolf hat diese Räume und ihre Bewohner fotografiert und für die Ausstellung
       wurde ein solches Zimmer sogar ins Museum gebaut. Dort kleben die Fotos
       aneinander wie Bienenwaben und der Besucher kann, einem Panoptikum gleich,
       in alle Räume schauen und wird auch hier zu einer Art geduldetem Voyeur.
       
       Doch Wolf nimmt auch eine gänzlich andere Perspektive ein. Für
       „Architecture of Density“ ist er buchstäblich zurückgegangen und zeigt uns
       Wohn- und Bürokomplexe, die er so dicht fotografiert, dass kein Platz mehr
       ist für Straßen, Bäume, einen Himmel oder irgendeinen anderen Ausweg, der
       den Bewohnern Hoffnung und unseren Augen die Möglichkeit zur Flucht gäbe.
       Andreas Gurskys berühmtes Foto „Montparnasse“ wirkt gegen Wolfs Blick fast
       leicht – und das muss man erst mal schaffen.
       
       Ebenfalls Hochhausfassaden hat Wolf in Chicago fotografiert – dort
       allerdings hat ihn der abendliche Blick in die Büros und Wohnungen
       fasziniert, die er aus der Hochbahn heraus erhaschen konnte. Für
       „Transparent City“ wurde er wieder zum Voyeur und zeigt uns Wimmelbilder
       mit einer unglaublichen Informations- und Detaildichte, die zum Starren und
       Entdecken auffordern.
       
       Aber auch hier geht es mitnichten allein um das Observieren. Wolfs Bilder
       zeigen wunderbar die Absurdität urbaner Parallelität, das Neben-, Unter-
       und Übereinander, aber niemals das Miteinander. Das ohnmächtige Aufbäumen
       des Individuums, der Querschnitt eines Puppenhauses, das wir Leben nennen.
       
       ## Was bleibt, ist digitales Rauschen
       
       Auf die Spitze getrieben hat Wolf die Entfremdung schließlich mit seinen
       Google-Street-View-Arbeiten. Wolf wurde zum Street Photographer der
       virtuellen Welt und hat dabei nach dem Wunderbaren, dem Faszinierenden,
       aber eben auch nach den „entscheidenden Momenten“, wie sie Henri
       Cartier-Bresson bezeichnet hat, im Alltäglichen gesucht.
       
       Dafür klickte er sich durch zahlreiche Stadtansichten und entdeckte in den
       für jedermann zugänglichen Aufnahmen Rehe mit (scheinbar) drei
       Vorderbeinen, eine nackte Frau einsam am Strand, Menschen, die verletzt,
       ohnmächtig oder tot am Boden liegen, Männer, die den Google-Kameras den
       Mittelfinger ausstrecken und ein sich küssendes Paar – Robert Doisneaus
       „Der Kuss vor dem Rathaus“ lässt grüßen.
       
       Von einigen Passanten hat Wolf die Gesichter so vergrößert, dass nichts
       weiter übrig bleibt als ein digitales Rauschen. Doch wer genau hinschaut,
       erkennt die Ähnlichkeit der Pixelanordnung in Wolfs strengen und
       pessimistischen Hochhausansichten wieder. Und auch, wenn sein Werk oft sehr
       distanziert und unterkühlt wirkt: Am Ende ist Michael Wolf ein Humanist.
       
       29 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Damian Zimmermann
       
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