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       # taz.de -- Big Data für die Forschung: Bringschuld für Datenspenden
       
       > Bei Big Data sieht der Deutsche Ethikrat Chancen für die Wissenschaft.
       > Die Mehrheit des Rats möchte möglichst freien Zugang für Forscher.
       
   IMG Bild: Forscherwünsche: Genetische Informationen aus der Biobank gekoppelt mit Daten aus dem Alltag
       
       Mit dem Wearable am Arm in den Supermarkt joggen, dort mit der
       Payback-Karte einkaufen, zu Hause am Computer ein Buch bei Amazon bestellen
       und zwischendurch schnell noch online ein Formular von der Krankenkasse
       ausfüllen. Am Abend dann in die U-Bahn mit ihren Überwachungskameras.
       Selbst Daten-Puristen, die auf einiges aus dieser Aufzählung verzichten und
       Facebook meiden, ist es heutzutage nicht mehr möglich, keine digitalen
       Spuren zu hinterlassen. Es gibt kaum eine Bewegung, die nicht aufgezeichnet
       würde, auch ohne Sensor auf der Haut und der Google Cloud am Bett.
       
       Was vielen aber nicht klar ist: Es gibt keine Daten mehr ohne
       Gesundheitsbezug. Darauf machte der [1][Deutsche Ethikrat Ende vergangenen
       Jahres mit einer umfangreichen Stellungnahme] aufmerksam, Ergebnis eines
       mehrjährigen Arbeitsprozesses unterschiedlich zusammengesetzter
       Arbeitsgruppen. Unter Big Data kann nämlich alles gesundheitsrelevant
       werden: Nicht nur die an die App freiwillig abgegebenen Vitalinformationen,
       auch der Einkauf im Supermarkt (Alkohol, Zigaretten oder Bio-Food?), das
       bestellte Buch oder, na, sagen wir mal, der abendliche Trip ins Bordell.
       Von den ganz normalen Informationen, die unter anderem Versicherungsträger
       oder Behörden speichern, ganz abgesehen.
       
       Big Data bedeutet, dass riesige Datenmengen unterschiedlichster Provenienz
       in sensationell schneller Zeit verarbeitet werden können, 80 Prozent davon
       sind unstrukturiert, der Datenmüll also, den wir täglich per Telefon,
       E-Mail und Ähnlichem hinterlassen.
       
       Die Spur dieser Daten ist unauslöschlich, denn es gibt keine sicheren
       Vergessmethoden, und was die bestehenden Datenschutzgesetze auf Grundlage
       des Grundgesetzes fordern, Anonymität, ist im Zeitalter hochautomatischer
       Datenverarbeitung und lernender Systeme, längst Makulatur. Entlegenste
       Daten können korreliert und rekombiniert werden und lassen Musteraussagen
       über den Gesundheitsstatus oder Lebensstil einer Person zu.
       
       Was in Alltagszusammenhängen mitunter nur skurril erscheint, kann in der
       medizinischen Forschung, darauf machte Gerd Ante, Vorkämpfer der
       evidenzbasierten Medizin und Direktor des Cochrane-Zentrums, kürzlich
       nachdrücklich aufmerksam, fatale Folgen haben. Statt aufgrund
       reproduzierbarer Experimente Kausalitäten aufzufinden, werden zufällige
       statistische Zusammenhänge, die blind sind für Fehler, für „evident“
       erklärt. Das berge beträchtliche Risiken für die Patienten, etwa durch
       falsch-positive Ergebnisse, wie sie aus der Brustkrebsdiagnose bekannt
       sind. Gesundheitsforschung unter der Ägide von Big Data, so Ante, bedeute
       den Abschied von einer evidenzbasierten Medizin.
       
       ## „Gold des 21. Jahrhunderts“
       
       Dass dieser „Gold des 21. Jahrhunderts“ genannte Rohstoff Begehrlichkeiten
       weckt, liegt auf der Hand. Die Werbeindustrie schürft schon längst in den
       Bergwerken der Datengiganten Google, Facebook oder Amazon. Inzwischen
       treten diese selbst als Dienstleister auf, auch auf dem Gesundheitsmarkt
       (zum Beispiel Google Fit) oder sie kooperieren mit medizinischen
       Einrichtungen, Krankenhäusern oder Forschungseinrichtungen (Cloud
       Computing).
       
       Aber auch die Forschenden selbst fordern den Zugang zu den Datenminen. Sie
       spekulieren auf ein besseres Verständnis von Krankheiten. Die klinische
       Forschung versucht etwa durch Gruppenbildung von Patienten
       (Stratifizierung) passgenauere Therapien zu entwickeln. Aus
       nachvollziehbaren Gründen sind auch Versicherer und Arbeitgeber an solchen
       „Risikoprofilen“ interessiert.
       
       Doch wem gehören eigentlich die Daten? Wer kontrolliert sie? Wer schützt
       sie vor Manipulation und Missbrauch? Die Datenskandale der letzten Jahre
       haben das Misstrauen gegenüber dem Datenabgriff noch verstärkt. In
       Großbritannien etwa – in Sachen Datenschutz nicht unbedingt ein Vorreiter –
       hat die unabhängige Datenschutzbehörde gegen einen Deal zwischen Google und
       dem Nationalen Gesundheitsdienst interveniert, nachdem Deep Mind (eine
       Tochtergesellschaft von Google Alphabet) mit den Daten von 1,6 Millionen
       Patienten nebenbei auch ihre Medizin App trainiert hat. Ein deutsches
       Apothekenzentrum soll in großem Stil unverschlüsselte Patientendaten an
       ein französisches Pharmaunternehmen verkauft haben. Und Datenschützer
       warnen immer wieder davor, dass bei der Erhebung von Fitnessdaten, die
       etwa im Home-Office registriert werden, der Chef mitliest.
       
       Gegenüber den Missbrauchsmöglichkeiten und Entsolidarisierungseffekten von
       Big Data – im Versicherungsbereich beispielsweise durch Gewährung von Boni,
       wenn Vitaldaten weitergegeben werden –, die in der Stellungnahme des
       Ethikrats durchaus nicht unterschlagen werden, machen die Räte aber vor
       allem die „ Chancen“ für den medizinischen Bereich stark, die mit Big Data
       verbunden sind, insbesondere unter Einbeziehung von genetischen
       Patientendaten.
       
       Unkritisch gegenüber der prospektiven Sammelleidenschaft von Bio-Banken
       oder nationalen Gesundheitsstudien wie der Nationalen Kohorte,
       unterstellen sie nicht nur, dass diese Großprojekte unmittelbare und
       positive Effekte für die Gesundheitsversorgung haben, sie bringen vielmehr
       auch die Bürger in eine „Bringschuld“: Es sei, formuliert es ihr
       Vorsitzender Peter Dabrock, „gegenüber den vielen Menschen, denen
       signifikante Gesundheitsverbesserungen winken, unverantwortlich, wenn man
       diese Chancen gesellschaftlich wegen der alten Datenschutzprinzipien
       verbieten wollte.“
       
       ## Ein Plädoyer für „Datenspenden“
       
       Um dem grundrechtlichen Gebot der „Wohltätigkeit“ und „Solidarität“ Genüge
       zu tun, sollen Gesunde und Patienten vermehrt zur „Datenspende“ bestärkt
       werden. Um ihnen das schmackhaft zu machen, schlägt der Rat in seiner
       Stellungnahme, der nur von Christiane Fischer mit einem Sondervotum
       widersprochen wurde, ein sogenanntes Kaskadenmodell vor, das von
       umfassender Zustimmung ohne Zweckbindung der Datenverwendung bis hin zu
       enger und zweckbezogenem Einverständnis reichen kann und von
       „elektronischen Agenten“ unterstützt werden soll. Den „legitimierten
       Akteuren“ soll ein „möglichst umfassender Zugang zu Forschungs- und
       Versorgungsdaten“ und „geeigneten gesundheitsrelevanten
       Big-Data-Anwendungen“ eingeräumt werden, nicht zuletzt, um die
       „internationale Wettbewerbsfähigkeit“ zu fördern.
       
       Das Zauberwort, das Stefan Augsberg, Leiter der Arbeitsgruppe, in Anschlag
       bringt, ist „Datensouveränität, die, so das Versprechen, das Konzept der
       informationellen Selbstbestimmung unter den Bedingungen einer vernetzten
       Welt und unter Wahrung der Privatsphäre weiterentwickele.
       
       Der Schutz personenbezogener Daten soll mit „der Realisierung von
       Potenzialen“ verknüpft und deren „kollektive Dimension“ hinsichtlich der
       gesundheitsrelevanten – man könnte auch sagen fremdnützigen – Forschung
       verstanden werden. Da sind die Räte ganz auf der Linie der Kanzlerin, die
       schon 2016 auf dem Nationalen IT-Gipfel verkündete, dass das „Prinzip der
       Datensparsamkeit heute nicht (mehr) die generelle Leitschnur sein kann für
       die Entwicklung neuer Produkte.“
       
       27 Jan 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.ethikrat.org/publikationen/stellungnahmen/big-data-und-gesundheit
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrike Baureithel
       
       ## TAGS
       
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