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       # taz.de -- 40 Jahre Tunix-Kongress in West-Berlin: 68? 78!
       
       > Tunix war eine Art Start-up-Kongress für die Alternativgesellschaft: Die
       > Linken lösten sich von den Illusionen der 68er. Es wurde konkret.
       
   IMG Bild: Michel Foucault (Bildmitte, Glatze) auf dem Kongress in der TU
       
       Die taz wäre bestimmt auch ohne den Tunix-Kongress gegründet worden. Ihre
       erste Christopher-Street-Day-Parade hätte die deutsche Homoszene im Jahr
       nach Tunix möglicherweise auch so organisiert. Michel Foucault wäre
       vielleicht auch ohne seinen glamourösen Berliner Auftritt vom
       intellektuellen Geheimtipp zum einflussreichsten Stichwortgeber in
       deutschen Philosophieseminaren geworden.
       
       Die Frauen, die sich so sehr über die männliche Dominanz auf den
       Tunix-Podien ärgerten, dass es der Frauenbewegung einen neuen Schub
       verlieh, hätten sicher auch einen anderen Anlass für solchen Ärger
       gefunden. Und wahrscheinlich hätte sich die kritische Masse, die die Ökos,
       die Friedensbewegten und die versprengten Linken der siebziger Jahre erst
       zu den Alternativen Listen und dann zu den Grünen zusammenfinden ließ, auch
       ohne Tunix ergeben.
       
       Obwohl – weiß man es?
       
       Nichts ist zwangsläufig in dieser Welt. Für vieles, was neu entsteht, gibt
       es einen günstigen Zeitpunkt, man muss ihn nutzen, sonst ist die
       Gelegenheit verloren – Kairos nennt man das. Das Tunix-Wochenende von Ende
       Januar vor vierzig Jahren in der Berliner Technischen Universität hat viele
       Alternativprojekte auf die öffentliche Agenda gesetzt, und ihre Akteure,
       ihre Mitläufer und die Suchenden, die für ihr Engagement noch kein
       passendes Ziel hatten, hat es darin bestärkt, dass der Zeitpunkt, sie
       tatsächlich zu verwirklichen, jetzt gekommen war. Womöglich wäre ohne Tunix
       die Gelegenheit ungenutzt verstrichen.
       
       ## Richtfest der bundesrepublikanischen Alternativkultur
       
       Vielleicht lässt es sich so formulieren: Während im sogenannten Deutschen
       Herbst mit der Schleyer-Ermordung und der „Landshut“-Entführung die
       politischen Zeichen auf Frust bis Entsetzen standen, waren gleichzeitig
       zehn Jahre nach 68 die Fundamente für eine buntere, offenere, alternative
       Bundesrepublik längst gelegt. Es gab linke Buchhandlungen und Biobäcker,
       Frauengruppen und AKW-Inis. Und David Bowie lebte gerade in Berlin und
       inspirierte nicht nur die queere Szene.
       
       Aber an den Wänden und am Dach des Ganzen wurde noch eifrig gezimmert. Auf
       diese Situation traf der Tunix-Kongress, diese schillernden, intensiven,
       antiautoritären drei Tage im Berliner Winter. Sie wurden zu so etwas wie
       einem Treibhaus oder einem Nährboden oder vielleicht auch zum Richtfest der
       bundesrepublikanischen Alternativkultur und damit zum Teil der deutschen
       Gesellschaftsgeschichte.
       
       Insofern ist „40 Jahre Tunix“ keineswegs nur der kleine Bruder oder die
       kleine Schwester von „50 Jahre 68“. In das Gedenkjahr 2018 bringt Tunix
       noch eine ganz eigene Farbe. Gegenüber der dogmatischen Linken mit ihren
       Fraktionskämpfen, ihren K-Gruppen und ihren autoritären Strukturen ging es
       um Lockerungsübungen.
       
       Entscheidend aber war ein Paradigmenwechsel, der sich eben erst nach 68
       vollzog und durch Tunix institutionalisiert wurde: der Wechsel vom
       Veränderungswillen des Ganzen dazu, die bestehenden Strukturen sozusagen
       links liegen zu lassen, die in ihnen entstandenen Nischen kreativ zu nutzen
       und so eine alternative Infrastruktur aufzubauen.
       
       Politisch war 68 noch getragen von prinzipieller Revolutionshoffnung, man
       glaubte an eine Allianz der Studenten mit der Arbeiterschaft, es ging
       darum, das System als Ganzes zum Umsturz zu bringen. Zehn Jahre später
       hatten sich diese Illusionen erledigt. Den Initiativgruppen von 78 ging es
       um die Durchsetzung konkreter Projekte. Alternative Parteien, alternatives
       Leben, alternative Zeitungen. Verbunden mit der Hoffnung, dass diese vielen
       kleinen Projekte in ihrer Fülle und Diversität zur Entwicklung einer
       besseren Gesellschaft zusammenfinden würden.
       
       Tunix, das war so etwas wie ein Start-up-Kongress der
       Alternativgesellschaft und zugleich ein Meilenstein beim Aufbrechen
       bundesrepublikanischer Homogenität. „Diversity“ war zwar noch lange nicht
       erreicht – und ist es ja bis heute nicht –, aber die Akteure wurden
       immerhin nicht mehr als Kader gedacht, sondern als zusammengewürfelter
       Haufen unterschiedlicher Fraktionen und Anliegen. Und intellektuell stand
       der französische Poststrukturalismus Pate mit seinen Ideen vom Ende der
       großen Erzählungen und seiner Hinwendung zum Prinzip der „Vielheit“, wie es
       in dem pünktlich zum Tunix-Kongress ins Deutsche übersetzten Merve-Bändchen
       „Rhizom“ hieß.
       
       Alle, die in dieser Zeitung an den Tunix-Seiten beteiligt waren – die
       RedakteurInnen, die schreibenden AutorInnen, die Fotoredakteurin, die
       Layouterin – sind zu jung, um dabei gewesen zu sein. Was damals los war,
       mussten wir uns erzählen lassen.
       
       Nachgeborener zu sein hat Nachteile, man war eben nicht dabei. Es hat aber
       auch Vorteile. Man braucht die Fraktionskämpfe, die Selbstrechtfertigungen
       und die Abgrenzungen der Teilnehmer und der damaligen Beiseitesteher nicht
       zu wiederholen. Man kann auch schlicht darüber staunen, dass so etwas wie
       Tunix tatsächlich stattgefunden hat. Das ist dann vielleicht auch ganz gut
       in Zeiten, in denen das, wofür Tunix steht – das Bunte, das Offene also –,
       radikal infrage gestellt wird, kulturkämpferisch von der Neuen Rechten,
       gesellschaftspolitisch von den konservativen Clustern der Bundesrepublik.
       
       Zugleich hat man als Nachgeborener auch eine andere Perspektive. Was den
       alternativen Projekten bevorstand, konnte man damals ja noch nicht wissen:
       Überführung in handhabbare hierarchische Strukturen, Coachings und
       Mitarbeitermediationen. Mit Willen und kreativem Chaos allein lassen sich
       eben auf Dauer keine Projekte institutionalisieren.
       
       Wichtiger ist noch ein zweiter Punkt. In dem, was damals so verheißungsvoll
       erschien, in einer Welt der Projekte und der teilweise flüssigen Strukturen
       leben wir heute. Mit allen Ambivalenzen, die das mit sich bringt. Sowenig
       die Hausbesetzer, die auch bald auftraten, wissen konnten, dass sie einmal
       die Pioniere der Gentrifizierung sein würden, so wenig konnten die „Mach
       dein Ding“-Helden von Tunix wissen, dass dieser Slogan einerseits später
       von globalen Internetkonzernen propagiert werden und andererseits prekäre
       Begleitaspekte haben würde. Auch das muss man berücksichtigen, wenn man den
       Blick nach Tunix zurückwendet.
       
       Aber eins ist klar: In eine Gesellschaft vor Tunix möchte man nicht zurück.
       
       27 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dirk Knipphals
       
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