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       # taz.de -- Flucht und Reisepass: Meine erste legale Reise
       
       > Nach drei Jahren Flucht habe ich einen Reisepass bekommen. Es ist das
       > erste Mal in meinem Leben, dass ich einen Pass habe. Ich habe sofort ein
       > Zugticket gekauft.
       
   IMG Bild: Lange ersehnt: Ein deutscher Reisepass und die Freiheit, die damit verbunden ist
       
       Früh am Morgen bin ich zur Ausländerbehörde gegangen und habe zum
       allerersten Mal in meinem Leben einen Reisepass bekommen. Meinen Pass, nach
       drei Jahren Kampf – und zwei Monate nachdem ich den Antrag gestellt habe.
       Ich bin direkt zum Lüneburger Bahnhof gegangen, habe mir ein
       Niedersachsen-Ticket plus fünf Euro für die Reise in die niederländische
       Stadt Groningen gekauft. Und bin losgefahren.
       
       Ende Februar 2011 konnte ich dank der Revolution in Syrien zum ersten Mal
       aus Syrien ausreisen, damals in den Irak. Wir waren damals eine Gruppe von
       rund 40 Leuten und fuhren zu einem Dorf an der irakischen Grenze. Dort
       mussten wir einige Stunden in einem Hinterhof warten.
       
       Gerade als die Uhr ein Uhr in der Nacht zeigte, liefen wir los. Zwei, drei
       Hügel auf und ab, viele Bäche überquert, von den Grenzwächtern eine lange
       Strecke gejagt, bis wir es endlich zum von Fluchthelfern vorgesehenen
       Treffpunkt am Fluss schafften.
       
       Erschöpft, klitschnass und frierend mussten wir das Schlauchboot aufpumpen,
       damit wir auf die irakische Fluss-Seite fahren konnten. Wir passten nicht
       alle auf einmal rein.
       
       Also teilten wir uns in zwei Gruppen auf. Ich war in der ersten Gruppe, die
       auf einer Insel in der Mitte des Flusses auf die zweite Tour warten sollte,
       genau in diesem Dreieck zwischen Irak, Türkei und Syrien. Die beiden
       letztgenannten Länder gehen nicht sehr freundlich mit geflüchteten Menschen
       um: Eher werden sie erschossen.
       
       Mit Glück und wahrscheinlich mit den Gebeten unserer Mütter schafften wir
       es auf die andere Seite, wo uns kurdische Soldaten uns herzlich empfingen
       und sich lange bei uns entschuldigten, weil sie uns für die Nacht im
       Gefängnis unterbringen mussten.
       
       Ich bekam dort Probleme, weil ich keinen Pass oder irgendeinen anderen
       offiziellen Ausweis besaß. Die Soldaten wunderten sich auch, dass ich an
       der kurdischen Salahaddin-Universität in Erbil, der Hauptstadt der
       Autonomen Region Kurdistan/Irak, eingeschrieben war und trotzdem illegal
       ins Land gekommen war. Die Studenten und Studentinnen fliegen in der Regel
       vom Libanon aus direkt nach Erbil. Für mich aber hatte ein Freund dort die
       Formalitäten erledigt.
       
       Das war meine erste Reise ins Ausland. Danach folgten noch mehrere ähnliche
       Trips zwischen Türkei, Irak und Syrien. Ich war am Ende fast ein Experte
       für diese illegalen Reisen, aber das machte die Gefahr nicht geringer.
       
       Die Fahrt von Lüneburg nach Groningen war nun meine erste legale Reise ins
       Ausland: und während ich im Zug saß, dachte ich an all die illegalen
       Reisen. Ich dachte auch an meinen Vater, der nie im Ausland war, der Syrien
       nie verlassen hatte. Ich dachte an all die Tausend Menschen, die das
       Gleiche erleiden müssen wie ich. Nur weil die Regierung in Syrien uns als
       sogenannte „Ungeklärte“ einstufte.
       
       ## „Ungeklärte“ sind Menschen, die keinen Pass besitzen
       
       Ungeklärte sind Menschen, die keine Papiere besitzen. Sie können zwar in
       Syrien leben, aber kein Vermögen bilden, dürfen nur unter harten Auflagen
       überhaupt arbeiten, dürfen zwar studieren, aber ohne am Ende Zertifikate zu
       erhalten, sie dürfen Kinder bekommen, aber diese dann nicht offiziell
       registrieren. Sie dürfen nicht heiraten und nur ganz eingeschränkt
       innerhalb Syriens reisen. Und sie dürfen nie ins Ausland reisen. Sie dürfen
       auch nicht als Zeugen vor Gericht aussagen.
       
       1962 gab es eine Volkszählung in Nordsyrien. Damals wurden die dort
       lebenden Menschen in Gruppen aufgeteilt: in KurdInnen, BürgerInnen,
       AusländerInnen und in Ungeklärte. Mit Ausbruch der Revolution in Syrien
       wurden den als AusländerInnen eingeordneten Menschen das Recht gegeben,
       BürgerInnen zu werden. Die Ungeklärten aber blieben nach wie vor
       Ungeklärte. Und noch immer scheint es niemanden zu interessieren, für sie
       eine Lösung zu finden.
       
       Am Tag nach meiner ersten legalen Reise ins Ausland beobachtete ich in
       Lüneburg eine Gruppe Touristen. Und ich habe mich gefragt, wie viele dieser
       Menschen wissen, wie groß der Luxus ist, einen Reisepass zu besitzen.
       
       26 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ismail Ismail
       
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