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       # taz.de -- Die Wahrheit: Weg ohne Ziel
       
       > Tagebuch einer Falschfahrerin: „Zu DDR-Zeiten suchte ich auf Autofahrten
       > nach Hamburg bei der Ankunft in Hof vergeblich nach der Elbe…“
       
       Vor Jahren sah ich in den USA einen Film mit dem Titel „Planes, Trains and
       Automobiles“. Steve Martin spielte einen Steve-Martin-mäßig
       schlechtgelaunten Werbefachmann, der es unbedingt pünktlich von New York
       nach Chicago zum heiligen Thanksgiving Dinner der Familie schaffen muss,
       und John Candy einen Vertreter für Duschvorhangringe, der als wandelnde
       Katastrophe an ihm klebt. Mit jeder neuen Wendung ihrer Odyssee steigerte
       sich meine Identifikation. Das war mein Leben da auf der Leinwand!
       
       Unter denen, die mich näher kennen, sind meine Irrfahrten Legende. Noch
       habe ich zwar kein Auto abgefackelt wie John Candy, aber ansonsten war so
       ziemlich alles schon dabei. Bereits als Kind ging ich ständig verloren,
       unzählige Male standen Kaufhäuser wegen der Suche nach mir kurz vor der
       Evakuierung, ich wurde an italienischen Stränden ausgerufen und in Zoos
       vermisst gemeldet; als alleinreisender Teenager verpasste ich regelmäßig
       Züge und landete anschließend statt in Süddeutschland in Flensburg, und zu
       DDR-Zeiten suchte ich auf Autofahrten von Berlin nach Hamburg bei der
       Ankunft in Hof vergeblich die Elbe.
       
       Vor der Einführung zigfacher Bordkartenkontrollen – also in der
       Frühsteinzeit – bestieg ich falsche Flieger und war indigniert, wenn ein
       Reisender plötzlich meinen Platz beanspruchte. Einmal blieb ich unentdeckt
       und landete statt in Bari in Basel, wo es auch schön war, nur kälter. Wie
       Blanche Dubois in „Endstation Sehnsucht“ verließ ich mich vertrauensvoll
       „auf die Güte von Fremden“, und auch im Zeitalter des Smartphones lasse ich
       mich lieber von menschlichen Wesen als von Online-Fahrplänen vor dem
       endgültigen Verschwinden retten. Man lernt dabei ganz reizende Leute
       kennen.
       
       Wahrscheinlich liegt es am fortschreitenden Alter, in dem man ja angeblich
       genügsamer wird, denn in letzter Zeit beschränken sich meine Irrwege auf
       die Berliner BVG. Neulich gelang es mir, auf dem einen Kilometer langen Weg
       den Kurfürstendamm entlang von der Uhlandstraße zum Adenauerplatz
       nacheinander mit drei Bussen in die falsche Richtung zu fahren. An der
       Gedächtniskirche beschlich mich eine leichte Irritation, und auf dem
       Display leuchtete grell die meinem Ziel entgegengesetzte Endstation, aber
       ich hielt noch zwei Stationen aus, überzeugt, der Fahrer habe das Ziel
       falsch eingegeben. Das ist der Grund, weshalb der menschliche Geist auf
       ewig dem Computer überlegen sein wird: Wo künstliche Intelligenzen längst
       die Notbremse ziehen würden, ist er in der Lage, jede noch so unumstößliche
       Realität zu leugnen.
       
       Beim dritten Anlauf fragte ich in sanftestem Blanche-Dubois-Ton die
       Busfahrerin, ob sie vielleicht zum Adenauerplatz … „Weeß ick doch nich“,
       war die Antwort. „Ick halt bloß anne Haltestellen.“ Eine unschlagbare
       Einladung, das Schicksal – irgendeines – anzunehmen. Und diesmal wurde ich
       sogar mit meinem Wunschziel belohnt.
       
       1 Feb 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Pia Frankenberg
       
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