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       # taz.de -- Umstrittenes Gemälde „Amor als Sieger“: Das Museum als Safe Space
       
       > Die Form eines Gemäldes ist sein Inhalt. Sollte man Caravaggios
       > Knabenporträt „Amor als Sieger“ gegen moralische Angriffe verteidigen?
       
   IMG Bild: Ausschnitt aus Caravaggios „Amor vincit omnia/Amor als Sieger“
       
       „Amor als Sieger“ hat heute noch die Kraft, Museumsbesucher in seinen Bann
       zu ziehen. In seiner Untersuchung der Kunst Caravaggios hat der
       Kunsthistoriker Michael Fried geschrieben, dass es das Gemälde zwar darauf
       anlege, die Betrachter anzusprechen, aber deren Blick auch auf den
       Hintergrund lenke und dadurch die reflektierende Eigenschaft eines Spiegels
       annehme. Die nach hinten weisende Hand Amors dirigiert den Blick in den
       illusionären Raum des Gemäldes hinein, der den realen Raum im Atelier und
       im Museum erweitert.
       
       In Jacques Lacans Entwicklungstheorie wird das Spiegelstadium als der
       Moment beschrieben, in dem das Kind seine Subjektivität entdeckt: seine
       Trennung nicht nur von der Umwelt, sondern auch der Mutter. Für Fried ist
       Caravaggios „Spiegel-Bild“ ein „Moment“ in der Geschichte, in dem die
       ursprüngliche Selbstverzauberung des künstlerischen Tuns mit
       Selbsterkenntnis konfrontiert wird. Der Künstler feiert die Entdeckung
       seines abgespaltenen künstlerischen Selbst und drückt zugleich die
       Traumatisierung aus, die diese Spaltung zur Folge hat.
       
       Das vergangene Jahr wird als das Jahr erinnert werden, in dem die Kunst von
       innen angegriffen wurde. Im Sommer verursachte das auf der Whitney Biennale
       in New York gezeigte Bild „Open Casket“ der Malerin Dana Schutz einen
       Aufruhr. Skandalisiert wurde es von Protagonisten aus der Kunstwelt. Schutz
       hat das Bild, das sich auf eine Ikone des afroamerikanischen Kampfs für
       Gleichheit bezieht, 2016 gemalt. Es gibt die Fotografie des
       vierzehnjährigen Emmet Till wieder, der 1955 einem Lynchmord zum Opfer
       fiel, dessen Spuren der Körper des toten Jungen zeigt. Tills Mutter hatte
       darauf bestanden, ihren Sohn im offenen Sarg zu beerdigen.
       
       Künstler und Kunstkritiker forderten, dass das Bild nicht nur aus der
       Ausstellung entfernt, sondern zerstört werden müsse. In der hitzig
       geführten Debatte darüber, wer und wer nicht gewisse heilige Bilder für
       seine Kunst benutzen dürfe, wurde kaum darüber gesprochen, was für ein Bild
       Schutz gemalt hatte. Als ob es gelesen statt betrachtet werden müsste,
       schien niemand darüber nachdenken zu wollen, welche malerischen
       Eigenschaften es besitzt und wie es seine Betrachter adressiert. Das
       Gemälde wurde gefacebookt, getwittert und instagramt wie eine Äußerung von
       Donald Trump – eine Comic-Sprechblase.
       
       Wenige Monate später verfassten zwei Schwestern in New York eine Petition.
       Sie forderten das Metropolitan Museum of Art auf, Balthus’ Gemälde „Thérèse
       Dreaming“ von 1938 nicht mehr oder nur eingeschränkt zu zeigen. Das Sujet
       des Bilds sitzt mit abgewandtem Gesicht und geschlossenen Augen, ein Knie
       an den Körper gezogen, was den Blick auf die Unterwäsche freigibt. Auf dem
       Boden eine Katze, Emblem vieler Gemälde von Balthus, Milch aus einer Schale
       trinkend. Das Bild ist in kräftigen Farben gehalten.
       
       Das pubertierende Modell Thérèse Blanchard war ungefähr zwölf, als das Bild
       entstand. Sie erscheint allein, mit ihrer Katze oder mit ihrem Bruder auf
       elf Bildern einer Serie, die zwischen 1936 und 1939 entstanden. Das Gemälde
       ist schön und unzüchtig. Mehr als 11.000 Unterschriften unterstützten die
       Petition der Schwestern, die durch die Reinigungskampagne, die nach den
       Enthüllungen von Harvey Weinsteins Verfehlungen durch #metoo begonnen
       hatte, Rückenwind bekam. Mia Merril, eine der Schwestern, beide Mitte 30,
       hat Kunstgeschichte studiert. Sie warnte vor der Sexualisierung von
       Kindern, die das Gemälde romantisiere.
       
       Dass Balthus (Balthasar Klossowski de Rola, 1908–2001) zum Angriffsziel
       wurde, verwundert nicht. Der figurative polnisch-französische Maler, dessen
       Bilder von Renaissance-Frescos, der Malerei von Piero della Francesca und
       dem französischen Realismus des 19. Jahrhunderts beeinflusst sind, wurde
       von den Protagonisten der modernen Malerei wie Picasso bewundert. Schon zu
       Lebzeiten umgab ihn die Aura einer verbotenen erotischen Sinnlichkeit. Sein
       Werk erschien wie ein schmutziger Witz, der die Qualität eines zeitlosen
       Klassikers besitzt. Über sechs Dekaden waren junge Mädchen sein Sujet.
       
       Die „neue Empfindlichkeit“ der Identitätspolitik, die sich im vergangenen
       Jahr so unverblümt äußerte, reduzierte sein Gemälde auf ein
       selbstbedeutendes Bild, also ein Bild, das als bloßes Abbild und neben
       anderen medial zirkulierenden Bilder als Äquivalent einer
       Calvin-Klein-Reklame erscheint. Die Kritik zeigte sich blind für seine
       Ambivalenzen (und die daraus resultierende Schönheit) sowie die Beziehung,
       die Balthus zum Betrachter herstellt. Der Künstler zeigt in diesem Bild
       seine eigene Verwundbarkeit, indem er sich mit der verführerischen
       Heranwachsenden identifiziert.
       
       ## Aggression gegen Bilder
       
       Knapp zwanzig Jahre vor der Balthus-Petition, 1998, kurz nach der
       Einweihung der neuen Gemäldegalerie am Kulturforum nahe dem Potsdamer
       Platz, wurden viele Gemälde verglast – weil Hans-Joachim Bohlmann, der seit
       den 1970ern Kunstwerke mit Säure attackiert hatte, angeblich ein
       Hotelzimmer in Berlin buchte.
       
       Während Bohlmanns Pathologie opak bleiben mag, hat doch der Drang,
       Kunstwerke zu beschädigen, eine symbolische Dimension in der Beziehung
       zwischen Kunst und Betrachter, die diese spezifische Aggression gegen
       Bilder mit den jetzigen Debatten über Kunst verbindet. Im vergangenen Monat
       wurde bekannt, dass die National Gallery of Art in Washington, D. C.
       Ausstellungen des Malers Chuck Close und des Fotografen Thomas Roma
       verschoben hat, weil Vorwürfe wegen sexuellen Fehlverhaltens laut geworden
       sind.
       
       Die Beziehung zwischen Betrachter und Bild definiert den Status von
       Kunstwerken und die Bedingungen des Sehens – und sie wird wiederum durch
       diese definiert, egal ob es sich um das Objekt eines Rituals, den Teil
       eines Altars oder ein autonomes Bild handelt.
       
       Das Staffeleibild entstand in den 1580er Jahren und stand im späten 19.
       Jahrhundert in höchster Blüte. Das ist der Kontext der Gemälde von
       Caravaggio, die ihre eigene Individualität zum Gegenstand haben, aber auch
       den Drang, sich aus dem allumfassenden Kontext der entstehenden
       Bildergalerien zu befreien.
       
       ## Amor in kontrastreichem Realismus
       
       Das Eros-Gemälde von 1601 ist das Provokanteste in Caravaggios Werk. Es
       hing angeblich hinter einem schwarzen Vorhang und wurde privaten Besuchern
       nur unter gewissen Bedingungen von seinen Besitzern gezeigt, dem Banker
       Vincenzo Giustiniani und seinem Bruder Kardinal Benedetto Giustiniani. Sie
       waren Caravaggios wichtigste Mäzene und die kenntnisreichsten Kunstsammler
       in Rom. Mitglieder des Hochadels, des Bankwesens und des Klerus wussten die
       ausgeklügelten voyeuristischen Ereignisse zu schätzen, die Caravaggios
       Bilder darstellten.
       
       Sein Amor befindet sich seit 1815 in Berlin, nachdem der König von Preußen
       es mit vier weiteren Bildern Caravaggios erworben hatte, wovon nur zwei den
       Zweiten Weltkrieg überstanden. Im Jahr 2014 wurde im Kontext des
       Pädophilie-Verdachts gegen den Ex-Bundestagsabgeordneten Edathy ein offener
       Brief verfasst: Caravaggios Amor, der „zweifellos der Erregung des
       Betrachters“ diene, solle nicht mehr gezeigt werden.
       
       Das Porträt, das Amor in einem scharfen, kontrastreichen Realismus zeigt,
       strahlt auf grelle Weise eine unverhüllte Sexualität aus. Wie in allen
       Caravaggio-Gemälden kann man die individuelle Präsenz eines spezifischen
       Modells spüren. Hier trägt das Modell, das wohl nicht älter als dreizehn
       ist, Flügel, deren akkurat gemalte Federn echt zu sein scheinen. Sein
       Lächeln scheint trotz jugendlichen Alters erfahren, dasselbe gilt für die
       Pose seines nackten Körpers. Sein linkes Bein ist angewinkelt, sein rechtes
       Bein berührt den Boden.
       
       ## Kunst und Totalitarismus
       
       Mit einem wissenden, verführerischen Lächeln blickt der Junge den
       Betrachter an. Er scheint sich trotz der absurden Pose wohl zu fühlen. Sein
       linker Arm reicht nach hinten, vielleicht um die Quelle des Genusses
       anzuzeigen, die er zu bieten hat. Das Modell ist als Francesco Boneri
       identifiziert worden, der wahrscheinlich mit Caravaggio zusammengelebt und
       möglicherweise sein Bett geteilt hat. Zu seinen Füßen und auf der Bank
       werden verschiedene Objekte abgebildet: eine Rüstung, Musikinstrumente, ein
       Notizbuch, ein Federkiel, ein Kompass und ein Lorbeerkranz.
       
       Das Metropolitan Museum hat die Petition gegen Balthus zurückgewiesen. Der
       Forderung, das Gemälde zu ersetzen, liegt der Wunsch zugrunde,
       Kunstausstellungen wie einen „Safe Space“ zu organisieren: Wenn Bilder uns
       mit Gefühlen konfrontieren, die wir nicht ertragen können und uns beleidigt
       explodieren lassen, müssen wir vor ihnen beschützt werden. Wer soll das
       entsprechende Zertifikat ausstellen?
       
       Wenn Kunst in die Zirkulation der Bilder eingespeist wird, führt das zu
       einer Vermischung von bildlicher Repräsentation und dem Figurativen,
       Metaphorischen. Es ist aber die Form eines Gemäldes, die sein Inhalt ist.
       Der Kunst werden totalitäre Ansprüche unterstellt, die sie nicht besitzt.
       Gegen die Möglichkeitsform der Kunst zu argumentieren, ihr uneigentliches
       Sprechen in ein gerichtetes umwandeln zu wollen, heißt, einen Machtkampf
       hinter einem ästhetischen Disput zu verstecken. Dieser Kampf ist aber weder
       einer der Moral noch der Ästhetik, er ist nur politisch.
       
       6 Feb 2018
       
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