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       # taz.de -- Kolumne Behelfsetikett: Blanke Bauzäune, kranke Krankenhäuser
       
       > Volksbegehren braucht kein Mensch? Doch: Sie können das Leben in der
       > Stadt tatsächlich schöner machen.
       
   IMG Bild: Wäre die Stadt ohne Reklametafeln schöner?
       
       Mitte Januar hatten wir ein Thema im Blatt, bei dem die Meinungen in
       unserer Redaktion auseinander gingen. Die Initiative „Berlin Werbefrei“
       hatte begonnen, Unterschriften für die Zulassung eines Volksbegehrens zu
       sammeln. Schon wieder so ein Volksbegehren, dachte ich, weil mich die
       Werbung im öffentlichen Raum im Grunde genommen nicht tangiert. Ich gucke
       gar nicht hin (oder aufs Smartphone) und die Werbebotschaften senden ins
       Leere.
       
       Nur manchmal, wahrscheinlich wenn mein Unterbewusstsein etwas
       Außergewöhnliches bemerkt, schaue ich doch hin. Dann handelt es sich
       meistens um etwas Witziges, Ausgefallenes. Wie kürzlich die riesigen
       Plakate eines Energieunternehmens, das mit einem schwulen Paar plus Baby in
       der Mitte für „Wärme der Berliner Art“ warb.
       
       Will sagen: So ein Volksbegehren, das sich mit etwas Glück und vielen
       Unterschriften zu einem Volksentscheid über eine massive Einschränkung von
       Werbung im öffentlichen Raum mausern könnte, braucht kein Mensch. Dachte
       ich. Freunde dachten anders und belehrten mich bei einem Abendessen in der
       Florastraße eines Besseren. „Die Stadt wäre viel schöner ohne die ganze
       Werbung“ war eins der Argumente. Hm.
       
       ## Unförmige Papierhaufen
       
       Wie zur Bestätigung dieser Aussage stand gegen Mitternacht eine Frau vor
       einem irre langen Holzzaun. Der umrundet eine riesige Baustelle bei mir in
       der Straße und ist mit Werbeplakaten zugepflastert. Die Frau schabte mit
       einem Spachtel Zentimeter für Zentimeter der bunten Werbebotschaften von
       der Wand. Am Boden bildeten sich unförmige Papierhaufen. Am nächsten Morgen
       war der Holzzaun blank. Und blieb das auch ein paar Tage lang. Sah
       irgendwie besser aus so ganz ohne.
       
       Okay, Volksentscheide sind schwer in Mode. Gerne mehr davon! Kann ja jeder
       selbst entscheiden, wie sinnig oder unsinnig diese sind, und dann
       unterschreiben oder eben nicht. Das wäre dann gelebte Demokratie.
       
       Für das allerneuste Volksentscheid-Vorhaben war ich dagegen sofort Feuer
       und Flamme. Ende Januar hieß es, dass ein Bündnis aus Klinikmitarbeitern
       und Patientenvertretern mit der Gewerkschaft Verdi einen Volksentscheid für
       mehr Personal in Berlins Krankenhäusern anstrebt. Das Ziel heißt „gesunde
       Krankenhäuser“: eine Festschreibung konkreter Personalvorgaben für die
       Pflege im Landeskrankenhausgesetz und eine bessere Finanzierung notwendiger
       Investitionen. Denn, so Verdi, die Politik habe versagt.
       
       ## Klinikalltag: desolat
       
       Nun, besser kann man die desolate Lage in vielen Berliner Krankenhäusern
       nicht beschreiben. Ich kann das etwas beurteilen, weil ich den ganzen
       Januar über wirklich jeden Tag zum Campus Benjamin Franklin (kurz: CBF –
       klingt irgendwie trendy) zum Krankenbesuch fahren musste und wollte. Und 30
       Tage lang täglich eine oder zwei und auch drei Stunden den Klinikalltag
       hautnah erleben konnte.
       
       Dem Krankenhaus am Hindenburgdamm sieht man sein Alter an, außen und innen.
       Es entstand zwischen 1959 und 1969 als Klinikum Steglitz. Die USA
       beteiligten sich damals zu einem Fünftel an den Baukosten. Um diese Hilfe
       zu würdigen, wurde das Klinikum 1994 in Universitätsklinikum Benjamin
       Franklin (UKBF) umbenannt. 2003 schließlich erfolgte die Fusion mit der
       Charité.
       
       Ich habe Klischees im Kopf, wenn ich an ein Krankenhaus denke: überlastete
       Krankenschwestern, Krankenpfleger und Ärzte. Sie sind immer in Eile, oft
       unfreundlich, weil überarbeitet, und lassen in der Regel ganz schön lange
       auf sich warten. Denn was macht der Patient, der sich ans Bett gefesselt
       nicht alleine helfen kann? Klingeln. Wenn dann gefühlt kleine Ewigkeiten
       vergehen – zehn Minuten können verdammt lang sein! – und niemand kommt,
       stellt sich eine Frage ganz dringlich: Was ist, wenn hier mal jemand
       wirklich einen Herzinfarkt bekommt und nicht „nur“ wegen zu starker
       Schmerzen nach der OP oder einer Flasche Wasser klingelt?
       
       Mir tun alle Patienten leid. Wer im Krankenhaus liegt und sich nicht
       alleine helfen kann, ist nun mal aufs Pflegepersonal angewiesen. Und davon
       gibt es immer zu wenig. Krankenschwestern und Krankenpfleger tun mir ebenso
       leid.
       
       Denn das System, angeblich eins der besten in der Welt, krankt erheblich.
       Sagt doch an einem Abend die herb-charmante Krankenschwester, dass „heute
       Abend besonders viel los“ ist. Und schiebt – sarkastisch oder verbittert? –
       hinterher, dass die Nachtschicht sich freuen könne, nur eine Kollegin sei
       da für die ganze Station, für 30 Betten voller Patienten.
       
       Sagen Sie das bloß nicht so laut, erwidere ich, ich schreibe das in meine
       Kolumne.
       
       4 Feb 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Hergeth
       
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