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       # taz.de -- Essay #metoo-Debatte: Der verdrängte Sexismus
       
       > Einige behaupten, die Debatte um sexuelle Gewalt und Belästigungen ist
       > übertrieben. Dabei ist sie das kein bisschen.
       
   IMG Bild: Wo sind die Frauen?
       
       „Mehrheit der Männer findet MeToo-Debatte übertrieben“, lautete der Titel
       auf [1][FAZnet vergangene Woche]. Nicht weiter verwunderlich, aber auf den
       zweiten Blick dann doch aufschlussreich. Allensbach formulierte die Frage
       für die Frankfurter Allgemeine Woche so: „Neulich sagte jemand: ‚Die ganze
       Debatte über sexuelle Belästigung schießt etwas über das Ziel hinaus – bald
       müssen Männer ja Angst davor haben, Frauen Komplimente zu machen.‘ Sehen
       Sie das auch so, oder sehen Sie das nicht so?“ Auffälligerweise wird also
       nur eine der zu wählenden Optionen ausführlich dargestellt. „Tendenziös“
       ist wohl der Hilfsausdruck für so etwas. Zum anderen: Wo sind die Frauen?
       
       Die Frauen, erfahren wir weiter unten im Text, stimmen der Aussage nur zu
       38 Prozent zu. Der Titel hätte also auch lauten können: „Mehrheit der
       Frauen hält Metoo-Debatte nicht für übertrieben“. Und nicht nur das. Wenn
       man den Durchschnitt bildet, stellt sich heraus: „Mehrheit der Deutschen
       hält MeToo-Debatte nicht für übertrieben“, nämlich 55 Prozent. So viele
       haben der Aussage explizit nicht zugestimmt oder wussten es nicht so genau.
       Das aber ist eine sehr gute Nachricht. Sie bedeutet, dass da langsam etwas
       ankommt. Schauen wir auf diese Woche zurück, eine Woche voller Talkshows,
       in denen es nur ein Thema gab: MeToo.
       
       Viele Kritiker*innen der MeToo-Bewegung, zuletzt etwa „Philosophie“-Chefin
       Svenja Flaßpöhler in der sehenswerten „Maybrit Illner“-Diskussion am
       Mittwoch, versuchen im Moment vor allem, die Gegenstände der Debatte
       auseinanderzusortieren: Hier sind die skandalösen Fälle, die Wedels und
       Weinsteins, strafrechtlich zumindest relevant gewesen, wäre nicht der
       größte Teil verjährt. Dort, auf der anderen Seite, ist der Sexismus der
       Masse, das Alltags-MeToo. Das aber sei – gerade in Anbetracht der
       strafrechtlich relevanten Fälle – „übertrieben“. Die Unterscheider*innen
       wie Flaßpöhler kritisieren, weil sie eben Unterschiede ums Ganze sehen, die
       „Vermischung“ all dieser Fälle durch die Feminist*innen.
       
       Diese dagegen, zuletzt in Gestalt der Aktivistin Anne Wizorek in derselben
       Sendung, meinen: So unterschiedlich schwerwiegend diese Fälle auch sind,
       sie beruhen auf einem einheitlichen Prinzip. Und dieses Prinzip sei das
       patriarchale Prinzip, dass ein Mann über den Willen einer Frau hinweggehen
       kann.
       
       Hinter dem Konflikt steht die grundsätzliche Frage: Ja leben wir denn noch
       im Patriarchat? Oder schon lange nicht mehr? „Das Patriarchat ist vorbei“,
       postuliert Flaßpöhler. „Nur seine Phantasmagorien sind noch da.“ Es klang
       ein bisschen so, als wolle sie sagen: Die Ladys sehen es noch überall am
       Werk. Aber eigentlich ist es gar nicht mehr da. Das Problem: Das
       Patriarchat ist eine einzige Phantasmagorie, die leider nicht nur auf
       Feminist*innen Auswirkungen hat. Und, ja, davon ist noch eine ganze Menge
       da.
       
       Unsere Kultur ist weiterhin von der Abwertung der Frauen durchdrungen. Die
       heute 50-Jährigen wurden von Eltern erzogen, die zum Beispiel im Westen
       (und der westdeutsche Diskurs ist der heute dominante) erst ab 1957
       lernten, dass sie nun gemeinsame Entscheidungen treffen sollen (der
       Stichentscheid des Vaters wurde abgeschafft). Aber waren sie dazu überhaupt
       in der Lage, die autoritär erzogenen ehemaligen Hitlerjungen und die braven
       deutschen Mädels? Offenbar nicht, denn bis 1977 fiel es nicht weiter auf,
       dass der Ehemann für seine Gattin einfach den Job kündigen durfte, wenn ihm
       danach war.
       
       Und auch danach gingen die Frauen nicht plötzlich in Konfrontation mit
       ihren Ehemännern. Sonst wäre wohl vor 1997 aufgefallen, dass Ehemänner ihre
       Frauen ganz legal vergewaltigen durften. Und glaubt nun tatsächlich jemand,
       dass Frauen seitdem schlagartig flächendeckend Nein schreien, wenn ihnen
       die Annäherung ihres Gesponses nicht gefällt?
       
       Was macht so etwas mit Männern und Frauen? In unser aller Seelen steckt die
       Erfahrung, dass Frauen weniger wert sind als Männer, dass Männer auf sie
       aufpassen müssen, sie und ihre Fähigkeiten bewerten dürfen, dass Frauen,
       kurz gesagt, nicht für voll genommen werden.
       
       Dieser Tage erscheint das Buch „Das beherrschte Geschlecht“ der Psychologin
       Sandra Konrad. Sie konstatiert, dass sehr viele Frauen immer noch nicht
       wissen, was sie im Bett eigentlich wollen, so durchdrungen sind sie von dem
       Gedanken, dass zunächst mal der männliche Orgasmus das Wichtige ist. Und
       dass die „gute“ Frau immer noch die ist, die die Meinung des Mannes
       übernimmt. Nicht nur ihres Ehemannes. Nein, auch die des Chefredakteurs,
       des Regisseurs, der veröffentlichten männlichen Meinung. Das ist das ganze
       Geheimnis des „Schweigekartells“ um Dieter Wedel. Ein maßlos überschätzter
       Mann, dem niemand Grenzen zu setzen wagt. Wenn das kein Patriarchat ist,
       was dann?
       
       All diese komplexen Mechanismen zu leugnen lässt eine Frau stark und
       unabhängig aussehen. Das ist attraktiv. „Da kommt dann als Erstes die
       Ohrfeige!“, schlug etwa Kriminologin Monika Frommel in der Talkshow „Hart
       aber fair“ am Montag als Reaktion auf sexistische Übergriffe vor. Sehr gute
       Idee. Die aber außer Acht lässt, dass aggressive Mädchen auch heute noch
       als unnormal gelten.
       
       ## Wer will schon Opfer sein?
       
       Die Monika Frommels und Svenja Flaßpöhlers dieser Welt sind bewundernswert.
       Aber sie sind nicht der Normalfall. Der Normalfall ist Journalistin Emilia
       Smechowski, die in derselben Sendung auftrat und sagte, ihr erster Gedanke
       bei einem solchen Vorfall sei gewesen: „Hoffentlich hat es keiner gesehen.“
       Das ist das Problem. Nicht Frauen wie Frommel, die sich hoffentlich schon
       immer zu wehren gewusst haben.
       
       Keine Frau möchte reagieren wie Smechowski, alle möchten lieber so sein wie
       Frau Frommel. Wir möchten alle lieber, dass die patriarchalen
       Phantasmagorien uns nicht leiten. Wer will schon Opfer sein? Und große
       Teile der Medien helfen uns dabei: „Wir leben doch nicht mehr im
       Patriarchat“, sagen sie. „Heute sind doch Frauen viel selbstbewusster. Sie
       weisen Männer, die sich nicht benehmen können, in die Schranken.“ Das aber
       ist eben auch ein gefährlicher Diskurs: Denn nun sind die, die immer noch
       ein Problem haben, die armen Hascherl, die leider minderausgestattet durch
       die Welt gehen müssen. Kein Selbstbewusstsein, die Armen. Pech gehabt. Aber
       doch bitte kein Grund, so ein Geschrei zu veranstalten wie jetzt dieses
       MeToo. Es ist doch weit und breit kein Patriarchat mehr zu sehen!
       
       ## „Kein gutes Standing“
       
       Wirklich nicht? Wissenschaftler*innen, die unsere unbewussten Stereotype
       erkunden, sehen auch heute noch immer wieder dasselbe. Wenn sie etwa
       Menschen fragen, was sie mit Männlichkeit und Weiblichkeit assoziieren.
       Immer wieder kommt heraus: Stärke und Schwäche. Intelligenz und Gefühl.
       Härte und Weichheit, Macht und Ohnmacht, Kontrolle und Kontrollverlust.
       
       Konkret heißt das, dass Frauen auch heute abgewertet werden. Natürlich auch
       und ganz besonders von Frauen, die die Selbstentwertung ja tief
       verinnerlicht haben. „Kein gutes Standing“ nennt man das auch gern in
       professionellen Kreisen. Weibliche Intelligenz wird weniger anerkannt,
       Frauen wird weniger zugetraut, und ihnen wird weniger Macht zugeschrieben.
       Ja, trotz Merkel. Und das heißt: Man nimmt sie weniger wichtig. Man kann
       entscheiden, ob man ihnen zuhört, sie mal eben für albern erklärt, für
       weinerlich (zu viel Gefühl!), sie ignoriert oder sie mal wieder ausgiebig
       in die Schranken weist. Das alles ist Sexismus, eine Abwertung aufgrund des
       Geschlechts.
       
       Über den Willen der Abgewerteten kann man hinweggehen. Ein Mechanismus, den
       übrigens alle kennen, die in der sozialen Pyramide unter dem weißen,
       körperlich halbwegs attraktiven, gesunden, heterosexuellen Mann stehen. Sie
       alle kennen Übergriffe. Nur der sexuell gefärbte Übergriff, der ist
       weitgehend für die Frauen reserviert. Der unerwünschte Blick, Spruch,
       Kontakt. Es ist leicht, diesen Sexismus für „zu klein“, und „unwichtig“ zu
       halten. Was ist schon ein Blick, ein Spruch? Das Problem ist, dass dieser
       kleine Blick, dieses „ungehobelte Wort“ ein ausgeprägtes Machtverhältnis
       ausdrückt. Ein Machtverhältnis, das wir nach Kräften verdrängen.
       
       Verdrängung ist ein aktiver Vorgang. Und bei diesem Vorgang können wir uns
       in der MeToo-Debatte beispielhaft beobachten. Die Mechanismen:
       
       Normalisieren. „Willkommen in der Wirklichkeit. So ist die Welt, so sind
       die Männer.“ „Für wirklich schwere Fälle haben wir das Strafrecht, alles
       geregelt.“ „Ist Sex nicht immer irgendwie übergriffig?“
       
       Bagatellisieren. „Ein paar ungehobelte Typen sind sexistisch, Einzelfälle.“
       „Stell dich nicht so an.“
       
       Pathologisieren. „Du bist zu blöd, dich zu wehren“ „Du machst dich ja
       selbst zum Opfer!“ „Hysterische Weiber.“ Und ganz einfach und effektiv:
       „Dieser Frau kann man nicht glauben. Sie übertreibt.“
       
       Blame the victim. „Frauen mit Dekolleté sehnen Übergriffe geradezu herbei!“
       „Dann mach doch die Bluse zu!“
       
       Relativieren I. „Vergewaltigung, Gewalt, das ist eine Straftat. Was du da
       erlebst, ist nichts dagegen.“
       
       Relativieren II: „Männer erleben auch Sexismus.“
       
       Relativieren III: „Früher, da war Patriarchat, da war es schlimm. Aber
       heute können Frauen sich ja wehren!“
       
       Rationalisieren: „Wo sind deine Beweise? Warum zeigst du nicht an? Ich
       glaube dir kein Wort.“
       
       Vieles in der Metoo-Debatte wird nach diesen Mustern verhandelt. Vor allem
       der Verweis darauf, dass vieles doch eher in der Vergangenheit angesiedelt
       ist, etwa in den Fällen Weinstein und Wedel, ist schwer in Mode. Als hätten
       wir heute in Kunst und Kultur dem männlichen Geniekult flächendeckend
       abgeschworen.
       
       Nein, die MeToo-Debatte ist nicht übertrieben. Sie hat erst angefangen.
       Tarantino denkt über seinen Umgang mit Uma Thurman nach. Werner Herzog
       sinniert über Kinski. Und die Debatte hat ja bisher nur wenige Bereiche
       erfasst. Wie sieht denn das Praktikantinnenwesen im restlichen
       Kulturbetrieb aus? Im Rest der Arbeitswelt? Die Debatte setzt sich gerade
       mit dem Titel „#SkiToo“ der Süddeutschen Zeitung fort. Da geht es [2][um
       Missbrauchsfälle im österreichischen Profisport]. Und man kann froh sein,
       und das wissen wir dank der FAZ, dass mittlerweile eine Mehrheit der
       Deutschen diese Debatte nicht für übertrieben hält.
       
       11 Feb 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/mehrheit-der-maenner-in-deutschland-haelt-metoo-debatte-fuer-uebertrieben-15427730.html
   DIR [2] http://www.sueddeutsche.de/sport/missbrauchsvorwuerfe-in-oesterreichs-skisport-so-heut-kommst-du-dran-1.3860322
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Heide Oestreich
       
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