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       # taz.de -- Ágota Kristóf im Schauspiel Dresden: Orgie der Düsternis
       
       > Den Antikriegsroman „Das große Heft“ von Ágota Kristóf taucht der
       > Regisseur Ulrich Rasche in Dresden in eine Ästhetik der Militanz.
       
   IMG Bild: Treffend und enorm suggestiv: Zwei große Drehscheiben hat Ulrich Rasche als Bühne installiert
       
       Wenn eine Premiere zwei Tage vor dem Gedenktag am 13. Februar an die
       Zerstörung Dresdens im Zweiten Weltkrieg stattfindet, legt sie einen Bezug
       zu der lange strittigen Dresdner Erinnerungskultur nahe. Denn die
       literarische Vorlage, „Das große Heft“ der 1935 geborenen Ungarin Ágota
       Kristóf, ist ein Antikriegsroman, eine Demonstration der im Überlebenskampf
       einsetzenden Verrohung, ein kühl kalkulierter Aufschrei. Wenn man so will,
       auch ein Menetekel angesichts der fortschreitenden inneren Barbarisierung
       in unserem äußerlich noch halbwegs friedlichen Land.
       
       Die immer dringliche Auseinandersetzung mit dem Dämon in uns kommt am
       Dresdner Staatsschauspiel nicht gerade als einfaches Angebot daher.
       Dreieinhalb Stunden reine Spielzeit setzen die Zuschauer selber einer
       Tortur aus. Die angebotenen Ohrenstöpsel sollten zumindest sensible Ohren
       auch nutzen.
       
       Schon die Romanvorlage lässt Äußerstes ahnen. Von der konkreten
       historischen Kulisse abstrahiert der Text, aber unschwer sind die späteren
       Weltkriegsjahre und die ersten kommunistischen Rákosi-Jahre in Ungarn zu
       erkennen.
       
       Ein männliches Zwillingspaar aus der Stadt soll bei der Großmutter auf dem
       Land eigentlich in Sicherheit gebracht werden. Aber gerade dort härten sie
       sich gegen die drohenden Schrecknisse selbst ab, pervertieren ihre Kindheit
       und Jugend, töten ihre Emotionen, lernen das Töten. Alles in nüchterner
       Selbstdistanz protokolliert, eben in jenem von ihnen angelegten „Großen
       Heft“.
       
       ## Begegnung mit der Gnadenlosigkeit
       
       Auf die Bühne in Dresden kommt auch nichts anderes als dieser Bericht der
       Zwillinge. Keine Aktion, keine Interaktion, keine Handlung, keine Dialoge.
       Seit Volker Lösch und seinen „Webern“ 2004 hat das Publikum hier eigentlich
       Erfahrungen mit Bürgerchören.
       
       Das chorische Theater Ulrich Rasches bedeutet noch einmal eine ganz andere
       Herausforderung. Einerseits eine Begegnung mit jener Gnadenlosigkeit, die
       die Zwillingsbrüder bei ihrer Selbstkasteiung auch an den Tag legen.
       Andererseits eine mit der stringenten Ästhetik verbundene Uniformität und
       Monotonie, die den Rezipienten vor die Wahl stellt, entweder abzustumpfen
       oder sich in einen Trancezustand jenseits kognitiver Wahrnehmungen zu
       versetzen.
       
       Das unentwegte Gehen und Marschieren der Protagonisten über Laufbänder, es
       prägte schon die Dynamik der „Räuber“, die Ulrich Rasche 2016 am
       Residenztheater in München inszenierte. In gleicher Weise müssen hier in
       Dresden die bis zu 16 männlichen Spieler unausgesetzt fortschreiten. Es
       wirkt nur gelegentlich wie Slow Motion, aber sie folgen einem Beat, der
       dreieinhalb Stunden durchhämmert und nur im zweiten Teil etwas variiert.
       
       ## Das Rad der Geschichte
       
       Unter den soldatisch wirkenden Männern, die für das zentrale Zwillingspaar
       stehen, drehen sich ebenso unausgesetzt zwei schräg gestellte Scheiben von
       wenigstens einem Dutzend Meter Durchmesser. Der ketzerische Gedanke taucht
       auf, was wohl ein Intendant der armen sächsischen Kulturraumtheater zu
       dieser extrem teuren Bühnenkonstruktion sagen würde.
       
       Das Bild ist treffend und enorm suggestiv, zumal auf der ansonsten leeren
       Bühne zusätzliche Scheinwerfer für düstere Lichtstimmungen sorgen. Es ist,
       billig formuliert, das Rad der Geschichte, dem die Brüder nicht entkommen
       können, ein endloser Marschtritt, ein faschistoider und kriegerischer
       Grundgestus.
       
       Was Schlagwerk, Bass, Cello und Violine in ihrer Repetition vorgeben,
       rundet zunächst den Eindruck ab. Aber die simplen musikalischen Mittel, die
       Komponistin Monika Roscher einsetzt und die einfach nicht die Magie
       gekonnter Minimal Music entfalten, nutzen sich schnell ab. Es dauert
       geschlagene 34 Minuten, ehe das Ohr überhaupt den ersten Soundwechsel
       registriert.
       
       ## Der Ton des Manifestes
       
       Gleiches gilt für die Szene. Alles wird in halbiertem Tempo deklamiert, mit
       äußerster Intensität forciert. Eine enorme physische und stimmliche
       Leistung der Spieler. Aber wenn auch die Beschaffung von Schreibpapier wie
       ein Manifest verkündet wird, bleibt für die wirklich dramatischen
       Ereignisse zum Kriegsende keine Steigerungsmöglichkeit mehr.
       
       Lediglich die früherotischen Berichte im zweiten Teil mildern die
       erschöpfende Dauerdrastik. Vor der hatten zur Pause schon etliche Zuschauer
       kapituliert. Am Schluss der übliche Jubel der persönlichen Fangemeinde, die
       nicht einmal die verklingende Spannung halten konnte.
       
       15 Feb 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Bartsch
       
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