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       # taz.de -- Berlinale 2018 im Überblick: Großbaustelle am Potsdamer Platz
       
       > Die 68. Berlinale wirft viele Fragen auf: Was kommt nach Dieter Kosslick?
       > Wie ist die Haltung zu #MeToo? Der Wettbewerb 2018 hat einiges zu bieten.
       
   IMG Bild: Bis die Berlinale rund ist, muss noch ein bisschen gemeißelt werden
       
       Von Dieter Kosslick kommen dieser Tage weniger Witze als gewohnt. Der
       künstlerische Leiter der Berlinale hatte das auf der Pressekonferenz
       vergangene Woche ausdrücklich damit begründet, dass die „Spaßbremsen“ dies
       ja nicht wollten.
       
       Gemeint war die Presse. Die hatte ihn im Herbst stark angegriffen, nachdem
       ein offener Brief von rund achtzig Filmschaffenden an
       Kulturstaatsministerin Monika Grütters publik geworden war, in dem die
       Verfasser ein transparentes Verfahren für die Nachfolge Kosslicks und einen
       „Neuanfang“ des Festivals angeregt hatten. In den Medien geriet die
       Angelegenheit rasch zur Debatte über die Berlinale unter Kosslick. Sein
       Vertrag läuft 2019 aus.
       
       Die Sache hat ihn getroffen. Was auch an der Bemerkung mit den Spaßbremsen
       deutlich wurde. Eigentlich als Scherz auf Kosten der Presse gemeint,
       überwog doch der Eindruck, da versuche jemand etwas gequält, die eigene
       Kränkung hinter einem launigen Angriff auf seine Kritiker zu verbergen.
       
       Als echten Witz könnte man hingegen Kosslicks offizielle Haltung zum
       aktuellen Stand der Diskussion über die zukünftige Leitung der Berlinale
       deuten. „Die Sache ist durch“, hatte er sich auf der Pressekonferenz
       vernehmen lassen. Daran sind durchaus Zweifel anzumelden. Klar, inzwischen
       ist die Suche auf den Weg gebracht, Grütters hat eine Findungskommission
       eingerichtet, im Sommer soll ein „entscheidungsreifer Vorschlag“ kundgetan
       werden. Doch wenn heute die 68. Ausgabe der Internationalen Filmfestspiele
       Berlin beginnt, werden die kritischen oder anderweitig neugierigen Stimmen
       mitnichten verstummt sein.
       
       ## Unter verschärfter Beobachtung
       
       Fragen zur Zukunft des Festivals und folglich auch zu den Erwartungen an
       die zukünftige Leitung werden die Berlinale so automatisch begleiten. Und
       jede weitere Filmvorführung wird den Besuchern potenziellen Stoff zum
       Austausch darüber bieten. In halbwegs öffentlicher Form tun können sie das
       zudem am Dienstag bei einem nächtlichen „Kneipengespräch“ in der Bar Anna
       Koschke, ausgerichtet vom parallel zur Berlinale laufenden Filmfestival
       „Woche der Kritik“. Mit Initiativen wie dieser soll das Festival
       argumentativ schon einmal gerüstet werden für etwaige kommende Umbauten.
       
       Es verspricht daher eine interessante Berlinale zu werden, ganz gleich, wie
       die Auswahl der Filme, zuvorderst des Wettbewerbs, diesmal von Publikum und
       Kritik angenommen werden.
       
       Eine Berlinale unter verschärfter Beobachtung steht an. Wie gut die
       einzelnen Sektionen aufgestellt sind, wie groß mithin der Anteil an starken
       Filmen ist, welche Filme aus den Nebensektionen eventuell besser in den
       Wettbewerb hätten aufgenommen werden sollen – und umgekehrt –, all das wird
       dieses Jahr noch einmal und zugespitzt zur Begleitmusik gehören – stets mit
       Blick auf die Berlinale 2020.
       
       Unstrittig ist die Frage, dass die Berlinale ein Publikumsfestival bleiben
       soll. Offen ist allenfalls, wie sich das konkret ausgestalten könnte. Ob
       man bei der Haltung bleibt, unter den rund 400 Filmen so viele
       Weltpremieren wie möglich zu bringen, oder in Zukunft mehr Arbeiten
       zulässt, die schon mal anderswo zu sehen waren. Oder ob die Aufteilung der
       Sektionen mit ihren diversen Untersektionen die bestmögliche Verteilung des
       Filmprogramms ist.
       
       ## Grund zur Vorfreude
       
       So, wie sie sich bisher präsentiert, ist die 68. Berlinale überhaupt nicht
       schlecht aufgestellt. Angefangen beim wiederkehrend als schwach bemängelten
       Wettbewerb. Freuen kann man sich – gemeinsam mit der Jury unter Regisseur
       Tom Tykwer – etwa auf Neues von den US-Amerikanern Wes Anderson und Gus Van
       Sant, der Italienerin Laura Bispuri, dem Filipino Lav Diaz, dem Franzosen
       Benoît Jacquot und allein vier Beiträgen aus Deutschland, darunter ein
       neuer Spielfilm von Christian Petzold. Dass man mit Wes Anderson auf einen
       gern gesehenen Gast setzt, der 2014 schon mit „Grand Budapest Hotel“ einen
       – preisgekrönten – Eröffnungsfilm beigesteuert hat, tut der Sache keinen
       Abbruch.
       
       Auch in den übrigen Sektionen gibt es reichlich Grund zur Vorfreude. Der
       Koreaner Hong Sang-soo, der zuletzt 2017 mit „On the Beach at Night Alone“
       im Wettbewerb dabei war und dafür den Silbernen Bären für die beste
       Schauspielerin erhielt, zeigt diesmal im Forum „Grass“ mit Menschen in
       Cafés, die über Beziehungsfragen sprechen, ein bei dem Regisseur beliebtes
       Sujet. Sehr vielversprechend im Forum sind dieses Jahr auch die politischen
       Dokumentarfilme, allen voran „Waldheims Walzer“ von Ruth Beckermann über
       die wieder höchst aktuelle österreichische Waldheim-Affäre und „Unas
       preguntas“ von Kristina Konrad, der am Beispiel eines Volksentscheids im
       Uruguay der Achtzigerjahre die Stimmen von der Straße in einer
       postdiktatorischen Demokratie wiedergibt.
       
       Freie filmische Arbeiten wie Guy Maddins „The Green Fog“ gibt es genauso zu
       begrüßen, ein „Spielfilm“, der sich ausschließlich aus Material von
       Hollywood-Klassikern und TV-Serien zusammensetzt, die in San Francisco
       gedreht wurden. Ein echter, intelligenter Spaß! Das Panorama wiederum
       bleibt auch unter der neuen dreiköpfigen Leitung seiner Linie treu, mit
       sozialkritischen Themen wie dem Antiwestern „Land“ von Babak Jalali, dessen
       Protagonisten die Einwohner eines Reservats in Neu-Mexiko sind. Oder mit
       queeren Themen wie im bildgewaltigen Dokumentarfilm „Obscuro Barroco“ von
       Evangelia Kranioti über Transsexuelle in Rio de Janeiro. Als kleine
       Vorauswahl.
       
       ## Umgang mit #MeToo
       
       Die größte Baustelle über alldem dürfte in diesem Jahr mit dem Wort #MeToo
       verbunden sein. Dafür musste das Festival selbst erst einmal wenig tun. Die
       Debatte über sexuelle Gewalt in der Filmbranche hat spätestens mit den
       Vorwürfen gegen den Regisseur Dieter Wedel auch die hiesigen
       Filmschaffenden erreicht. Als Reaktion darauf gibt es offiziell vonseiten
       des Festivals ein Beratungsangebot und Podiumsveranstaltungen zum Thema.
       Und die Berlinale hat, so erklärte Kosslick am Samstag gegenüber der Neuen
       Osnabrücker Zeitung, „in diesem Jahr Arbeiten von Leuten nicht im Programm,
       weil sie für ein Fehlverhalten zwar nicht verurteilt worden sind, es aber
       zumindest zugegeben haben“. Eine „Vorverurteilung“ wollte das Festival aber
       vermeiden.
       
       Eine Formulierung, die in ihrer Gewundenheit wieder ein Hintertürchen offen
       lässt. Und die anscheinend nicht ganz zuzutreffen scheint. So zeigt der
       koreanische Regisseur Kim Ki-duk dieses Jahr seinen Spielfilm „Inkan,
       gongkan, sikan grigo inkan“ (Human, Space, Time and Human) in der Sektion
       Panorama. Eine Schauspielerin, die anonym bleiben möchte, zieh die
       Berlinale daher jüngst der Scheinheiligkeit: Im vergangenen Sommer hatten
       koreanische Medien berichtet, die Schauspielerin werfe Ki-duk vor, ihn bei
       einem Dreh misshandelt und zu einer Sexszene gezwungen zu haben, die nicht
       im Drehbuch stand. Sie war vor Gericht gegangen, und Ki-duk musste eine
       Strafe zahlen, auch wenn das Gericht den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs
       mangels Beweisen fallen ließ.
       
       Die Sektionsleitung des Panoramas hat mittlerweile reagiert und dem
       Tagesspiegel gegenüber gesagt, man habe von den Vorwürfen gewusst, sich
       aber der Stärke des Films wegen entschieden, diesen zu zeigen – und den
       Regisseur einzuladen. Im vollen Bewusstsein um die Kritik, die darauf
       folgen würde. Damit zeigt das Festival einerseits Haltung, auch in einer
       eindeutig heiklen Frage zugunsten eines Films zu entscheiden. Andererseits
       hätte man Kim Ki-duk dafür nicht einladen müssen: Von einer
       „Vorverurteilung“ kann man bei ihm kaum sprechen. Dafür wird er sich dann
       in einer Pressekonferenz der Kritik stellen müssen.
       
       Auch hier kann mit verschärfter Wachsamkeit gerechnet werden, wie sich die
       Berlinale auf diesem Feld schlagen wird. Ob ihr Beratungsangebot ein ernst
       gemeinter Beitrag ist oder mehr Kosmetik, lässt sich dann erst im
       Nachhinein beurteilen. Andererseits dürfte auch niemand ernsthaft erwarten,
       dass das Festival die Probleme um #MeToo allesamt wird angehen können. Dass
       man sich der Diskussion annimmt, bleibt als Geste zu respektieren.
       
       Ob man jetzt ein zudem optisches Zeichen setzen muss, wie die
       Schauspielerin Claudia Eisinger jüngst forderte, und [1][einen schwarzen
       Teppich statt eines roten] ausrollt, ist dabei nicht die Hauptfrage. Dass
       die Initiative bis zum frühen Mittwochnachmittag gut 21.000 Menschen
       gefunden hat, die sie unterstützen, spricht jedoch dafür, dass sich die
       Berlinale noch einigen Fragen zu #MeToo wird stellen müssen.
       
       Über mangelnde Aufmerksamkeit braucht sich die Berlinale dieses Jahr ganz
       klar nicht zu sorgen. Ob die immer im Sinne der Macherinnen und Macher sein
       wird, ist eine andere Geschichte. Man kann sich jedenfalls auf eine
       streitbare Berlinale freuen. Auf sehr vielen Ebenen. Das ist doch nicht das
       Schlechteste.
       
       14 Feb 2018
       
       ## LINKS
       
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