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       # taz.de -- Ein neuer Feiertag für den Norden: Etwas Besseres als Luther
       
       > Die Nordländer wollen einen neuen Feiertag einführen. Es läuft auf den
       > Reformationstag zu, dabei wäre der Matrosenaufstand viel schöner – und
       > viel norddeutscher.
       
   IMG Bild: Trauriger, mutmachender Tag: Die Revolution begräbt ihre Opfer in Kiel 1918
       
       Bremen taz | Dagegen, dass die norddeutschen Bundesländer einen Feiertag
       einführen wollen, lässt sich wenig einwenden. Ein Tag weniger
       Arbeitsstress, das ist eine feine Sache, und Baden-Württemberg und Bayern
       hat die Vielzahl altertümlicher, christlich motivierter Sonderurlaubstage
       wirtschaftlich auch nicht komplett ruiniert. Insofern sind Vorbehalte von
       Industrie- und Handelslobbyist*innen nicht ganz schlüssig.
       
       Aber selbst wenn die Ausrufung eines Feiertags eine rein pragmatische
       Angelegenheit wäre, wäre der Welttoilettentag besser als der 31. Oktober,
       auf den sich die norddeutschen Regierungschef*innen vorverständigt haben;
       und es ist ein Glück, dass wenigstens in Bremen die Uneinigkeit der
       rot-grünen Koalition den reaktionären Durchmarsch vorerst stoppt
       
       Pragmatisch spricht gegen den Reformationstag, dass am 1. November in
       Niedersachsens Nachbarland Nordrhein-Westfalen ebenso wie in den Südländern
       seit jeher frei ist – wegen Allerheiligen. Wer also Insellösungen scheut,
       müsste sich hier der Macht der älteren Tradition beugen, und wem Stockungen
       der Logistikkette Sorgen bereiten, der kann mit einer solchen Abfolge der
       Betriebsunterbrechungen nicht glücklich werden.
       
       Immerhin: Die zweite Jahreshälfte ist eine bessere Variante als der
       feiertagsüberfrachtete Mai, der schon jetzt regelmäßig die Akteur*innen des
       staatlichen Bildungssystems an den Rand des Wahnsinns bringt. Der 8. Mai,
       Tag der Befreiung vom Naziregime, ist ein wichtiges Datum, keine Frage,
       aber als Feiertag taugt er nicht, weil er immer wieder mit Himmelfahrt
       zusammenfällt – oder ganz knapp daneben.
       
       Weder im September noch im November gibt es jedoch in Norddeutschland
       gesetzliche Party-, Frei-, Ruhe-, Gedenk- oder Trauertage, was erstaunlich
       ist, weil sich ja anhand der Daten vom 3. bis zum 11. November nahezu die
       gesamte deutsche Geschichte zusammenfassen lässt: das wichtigste Brauchtum
       (Karnevalsbeginn), die schändlichsten Verbrechen (Reichspogromnacht) – und
       die schönsten und die demokratischsten Impulse wie etwa der
       Matrosenaufstand in Kiel und Wilhelmshaven, mit dem die Novemberrevolution
       von 1918 begann.
       
       ## Konzentrat des gesellschaftlichen Lebens
       
       Das führt auf den Punkt, der zentral bei dieser Debatte sein müsste – und
       es nicht ist: Einen Feiertag festzulegen ist nämlich keine rein
       pragmatische Entscheidung. Es geht nicht nur um einen freien Tag. Ein Fest,
       jedes Fest, ist ein Ereignis der Gesellschaft: Sie sind, wie die
       Ethnolinguistin Jeanine Fribourg einst herausgearbeitet hat,
       „Zusammenfassung, ja in gewisser Weise Konzentrat des gesellschaftlichen
       Lebens“.
       
       Am und im Festtag spiegelt und bestätigt sich ein Gemeinwesen. Hier kann
       es, im Aussetzen des Alltags, seinen Sinn behaupten, sein Selbstverständnis
       bestimmen. Wie kann das aussehen, im 21 Jahrhundert? Welche Traditionen
       passen zu unseren Vorstellungen vom Zusammenleben? Welche regionalen
       Gemeinsamkeiten gäbe es, die einer inklusiven Gesellschaft entsprechen? Wie
       kann Demokratie identitätsstiftend wirken?
       
       Diese Fragen zu stellen, scheint in einer Zeit geboten, in der das Modell
       der liberalen Demokratie der Bundesrepublik und eines aus den Regionen sich
       speisenden friedlichen Europas eine schwere Krise erlebt. Das wären Fragen,
       die in einer Feiertagsdiskussion eine Rolle spielen müssten.
       
       ## Der Glaube ist Privatsache, der Staat ist für alle da
       
       Stattdessen hängen sich – und das belegt ein geradezu widerwärtig
       verkommenes Staatsverständnis und eine bestürzend unterbelichtete Idee von
       Gesellschaft – Norddeutschlands Ministerpräsident*innen und die sie
       stützenden Parteien an die Rockschöße des abgehalfterten evangelischen
       Klerus und wollen den Reformationstag staatlich begehen.
       
       Dieser bedenkliche Schulterschluss von Staat und Kirche, der nahe an die
       funktionale Verwechslung beider geht, spricht in geradezu aggressiver
       Dummheit aus dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil (SPD),
       wenn er, wie jüngst im Kloster Loccum, behauptet, „Gewissheit und
       Gemeinschaft zu vermitteln“ wäre „die gemeinsame Aufgabe von Staat und
       Gesellschaft, von Politik, Kirchen und vielen Verantwortlichen mehr“.
       
       Staat, Kirche, Gesellschaft, Politik – für Weil alles dieselbe Suppe.
       Wollen ja doch alle das Gute. Eine solche Identifikation hätte vielleicht
       im Norddeutschen Bund und im Preußen der Kulturkampfzeit – in dem
       selbstredend der Reformationstag begangen wurde – deskriptiv etwas für sich
       gehabt: Das Bündnis von Thron und Altar diente nicht nur dazu,
       konfessionelle Machtstrukturen zu verfestigen, sondern auch, den Ausschluss
       missliebiger politischer Kräfte abzusegnen.
       
       Nein, das ist kein Argument gegen traditionelle bekenntnisbezogene
       Festtage: Diese spiegeln, dass auch die Arbeits- und Alltagswelt sich nicht
       in einem luft- und kulturleeren, von Konfessions- und Glaubenskriegen
       verschonten Raum entwickelt haben. Sie sind geschichtlich geprägt, und dass
       wir nur so selten frei haben, ist in erster Linie Martin Luthers Schuld,
       ein Grund mehr, gerade diesen Typen nicht zu feiern.
       
       Wer aber den Rhythmus des Alltags zeitgemäß verändern und mitgestalten
       will, wer Feiertage als neue Inseln für Öffentlichkeit etablieren will,
       sollte nicht versuchen, gemeinsame Sache mit einer Bekenntnisinstitution zu
       machen, und insbesondere nicht mit der Kirche oder der Partei der Mehrheit.
       Denn der Glaube und die Überzeugungen, das ist Privatsache. Der Staat
       hingegen ist für alle da. Auch für die Minderheiten, die die
       Regierungschefs mit ihren politischen Mehrheitsbeschaffern so effektvoll
       versuchen, durch die Reformationstagsfeierei auszugrenzen.
       
       Den ganzen Schwerpunkt der taz nord zur Feiertagsdebatte im Norden lesen
       Sie in der taz am Wochenende am Kiosk oder digital [1][hier].
       
       16 Feb 2018
       
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