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       # taz.de -- Filmemacher Kroske auf der Berlinale: „Das SPK hat rebelliert“
       
       > Die Geschichte des Sozialistischen Patientenkollektivs in Heidelberg ist
       > praktisch vergessen. Gerd Kroskes erzählt sie in seiner Dokumentation
       > „SPK Komplex“.
       
   IMG Bild: Der Regisseur Gerd Kroske
       
       taz: Herr Kroske, „SPK Komplex“ lässt viele Protagonisten der Gruppe zu
       Wort kommen. Aber ihr Spiritus Rector, Wolfgang Huber, fehlt. Weil sein
       Aufenthaltsort unbekannt ist, können Sie seine Person nur mittels alter
       Filmaufnahmen, Fotos und Tonmitschnitte umkreisen. Wie würden Sie ihn
       beschreiben? 
       
       Gerd Kroske: Ich hatte nicht den Ansatz, ein Huber-Porträt zu machen. Ich
       wollte das SPK-Konzept, dem es um Aufhebung von Hierarchien ging, filmisch
       widerspiegeln. Huber muss großes Charisma haben und scharfzüngig sein. Sein
       Problem an der damals erzkonservativen Universität in Heidelberg, wo etwa
       die ersten schlagenden Verbindungen wieder zugelassen wurden, war unter
       anderem sein sozialer Hintergrund. Er kam nicht aus einer wohlhabenden
       Medizinerfamilie. Bei den Partys dort ist es vorgekommen, dass jemand nach
       Paris flog, um Austern zu beschaffen.
       
       Aus welchem Milieu kam er? 
       
       Das waren einfache Leute aus dem kleinen Ort Bissingen in der Pfalz.
       
       Das SPK wollte die „Verwahrpsychiatrie“ abschaffen. In der
       Selbstorganisation der Patienten sollte es keine Trennung von Ärzten und
       Patienten mehr geben. Warum hat sich die Gruppe radikalisiert, warum haben
       sich manche Anfang der 1970er der RAF angeschlossen? 
       
       Es gab ein politisches Vakuum in Heidelberg, nachdem die lokale SDS-Gruppe
       nach einer großen Demonstration gegen den früheren US-amerikanischen
       Verteidigungsminister Robert McNamara verboten wurde. Wer politisch
       arbeiten wollte, konnte nur noch beim Kommunistischen Bund Westdeutschlands
       oder im SPK mitmachen. Die Gruppe begann dann in Arbeitskreisen Hegel, Marx
       und Spinoza zu lesen und deren Theorien auf ihre gesellschaftliche
       Situation zu übertragen. Damals, um 1970, wurden die Thesen entwickelt, die
       fast parolenhaft klingen: „Das System hat uns krank gemacht; geben wir dem
       kranken System den Todesstoß.“ Oder: „Aus der Krankheit eine Waffe machen.“
       Sie hangelten sich am Entfremdungsbegriff von Marx entlang und
       transportierten das auf den Gesundheitszustand der Gesellschaft, was nicht
       so abwegig ist.
       
       Das SPK hat psychische Erkrankungen als gesellschaftliches Phänomen und
       Folge der kapitalistischen Produktionsweise betrachtet. Das Krankenhaus
       beschrieb Huber als Fabrik: Der Kranke muss seine Produkte – Stuhl,
       Nierensteine oder Kopfschmerzen – abgeben, die dann in Arztrechnungen,
       Laborrechnungen, Verwaltungskosten umgewandelt werden. 
       
       Das ist eine ganz aktuelle Diskussion. Die SPD versucht gerade, die
       Bürgerversicherung einzuführen, aber die Ärzte halten sich vornehm raus.
       Das wundert mich, weil es nicht nur ein gesundheitspolitisches, sondern ein
       evident gesellschaftliches Anliegen ist. Das muss man Medizinern und
       speziell Psychiatern heute vorwerfen. Das SPK hat rebelliert.
       
       Die Lage war 1970 eine andere. 
       
       Aber die Grundsituation war nicht so viel anders. Die Berichte, die
       regelmäßig erscheinen und zeigen, dass die Zahl der von psychiatrischen
       Krankheiten Betroffenen steigt, sind nicht vom Tisch zu wischen.
       
       Aber die Irrenanstalt funktionierte 1970 noch wie im 19. Jahrhundert. Im
       Film zeigt Carmen Roll am Beispiel Triests, wie sich der Zustand der
       Patienten durch die Internierung verschlimmern musste. Insofern haben
       antipsychiatrische Bewegungen wie das SPK doch eine Wirkung erzielt. 
       
       Sein Beitrag ist heute aber kaum bekannt. Heute ist es üblich, dass auch
       Laien Patienten betreuen oder Patienten in Wohngruppen leben. Das SPK hat
       das frühzeitig praktiziert. Außerdem haben sie sich mit der
       Nazivergangenheit der deutschen Psychiatrie befasst, zu einem Zeitpunkt,
       als das noch viel Ärger einbrachte. Nicht aus einer sicheren Position
       heraus, wie es dann einige bekannt gewordene Ärzte später gemacht haben,
       die auch heute noch nicht die Quellen benennen: Sie waren Profiteure des
       Aufbegehrens der SPKler. Heidelberg war maßgeblich am T4-Programm der
       Nationalsozialisten beteiligt.
       
       Warum wurde die Geschichte des SPK so gründlich vergessen? 
       
       Das hat damit zu tun, dass schon die Alt-Ordinarien Huber denunzieren
       konnten, weil er seine Facharztausbildung nicht gemacht hatte und
       stattdessen nebenbei Philosophie studierte. Er wurde rausgedrängt. Es gab
       eine wahrnehmbar schlechte Situation in der Psychiatrie. Das führte 1972
       zur Einsetzung einer Enquetekommission zur Lage der Psychiatrie in
       Deutschland. Sie legte einen 500 Seiten langen Bericht vor, der von
       grauenhaften Zuständen berichtet. Erstaunlicherweise kommt das SPK, das
       immerhin eineinhalb Jahre lang psychopraktische Arbeit geleistet hat, darin
       überhaupt nicht vor.
       
       Das SPK zu nennen war nicht opportun. 
       
       Aber auch Huber selbst hatte Anteil daran, der im Knast die sogenannte
       Patientenfront ausgerufen hat. Im Gefängnis ist er abgedreht. Huber hat
       Totalverweigerung betrieben. Er hat jede Art von Mitwirkung verweigert,
       selbst auf ein Radio lange Zeit verzichtet, weil er die Quittung nicht
       unterschreiben wollte. In einer Konsequenz, die erschreckend ist und
       beinahe selbstzerstörerisch. Hubers älteste Tochter besuchte ihn häufig.
       Weil er aber Besuch verweigerte, wenn LKA-Beamte dabei waren – und die
       waren immer dabei –, gab es bizarre Begegnungen. Die älteste Tochter reist
       aus Berlin an, sie begegnen sich im Besuchsraum, heben beide synchron die
       Faust und sagen: „Der Kampf geht weiter.“ Dann ist der Besuch zu Ende.
       
       Eine der wichtigsten Protagonistinnen des Films ist die schon erwähnte
       Carmen Roll. 
       
       Sie schafft im Film eine Verbindung zur Antipsychiatriebewegung. Als viele
       SPK-Mitglieder 1971 verhaftet werden, ist Carmen Roll auf dem Weg ins SPK
       und erfährt im Zug von der Razzia, weil ein Mitreisender im Kofferradio
       Nachrichten hört. Sie verschwand sofort im Untergrund. Später wurde sie zu
       einer vierjährigen Haftstrafe wegen Mitgliedschaft in zwei kriminellen
       Vereinigungen, SPK und RAF, verurteilt. Nach der Haft arbeitete sie bei
       Franco Basaglia, der die große Klinik San Giovanni in Triest aufgelöst
       hat. Als ich sie traf, kam sie gerade aus dem Irak, wo ein Frauenhaus
       aufgebaut werden soll für Kriegswitwen, von denen sich viele aus
       Verzweiflung umbringen und die psychologisch betreut werden sollen.
       
       Es gibt in dem Film keine „Bauchbinden“, also Texthinweise darauf, wer die
       Interviewten sind. Das erscheint auch wie ein revolutionärer Akt, wenn man
       sich dagegen viele zeitgenössische Dokumentarfilme ansieht. 
       
       Das sehe ich ganz anders. Man würde doch auch nicht erwarten, dass Georges
       Franju in seinem Klassiker „Das Blut der Tiere“ jeden Schlachter mit einer
       Bauchbinde untertitelt. Heute gibt es aber durch das Fernsehen diese
       Erwartung. Mein Lieblingsbeispiel, das ich im deutschen Fernsehen gesehen
       habe, ist ein Mann in Bäckerkluft und Bäckermütze, dazu die Erklärung:
       „Dieter Frank, Bäckermeister.“ Was für ein Quatsch, das seh ich doch!
       
       In Ihrem Film wird man nicht mit Funktionsträgern konfrontiert, sondern mit
       Gesichtern, Mimik, Gestik und den Geschichten von Menschen. 
       
       Wir haben beim Montieren versucht, deutlich zu machen, ob man es mit einem
       Polizisten, einem Anwalt oder einem Patienten zu tun hat. Diese
       Entscheidung hat aber auch einen konzeptionellen Grund. Oft ist der
       Übergang in die Radikalisierung bis hin zur RAF ein schleichender und
       offener, weil er von Zufällen abhängig ist. Wenn Carmen Roll an diesem Tag
       nicht auswärts geschlafen hätte, wäre sie sofort verhaftet worden.
       
       Carmen Roll erklärt eine wesentliche Idee Basaglias: Wenn man die Kranken
       nur innerhalb der Institution betrachtet, sieht man nicht sie, sondern das
       Irrenhaus. Der Verzicht auf die Bauchbinde ermöglicht einen ähnlichen
       Perspektivwechsel. 
       
       Für mich ist der Film gar nicht so gelungen, weil mir vieles fehlt. Man
       muss sich zum einen vor Augen halten, dass ein Großteil der 500 Anhänger
       des SPK Patienten waren, die Hilfe brauchten. Man muss Huber und dem
       inneren Kreis vorwerfen, dass es an einem Punkt nicht mehr um die Patienten
       ging, die dann auf der Strecke geblieben sind. Es gab unter ihnen einige
       Suizide. Zum anderen gab es die Berufsverbote. Viele Mediziner konnten
       nicht mehr in Deutschland praktizieren. Sie sind nach Österreich, Schweden
       oder in die Schweiz gegangen.
       
       23 Feb 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Gutmair
       
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