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       # taz.de -- 20 Jahre Berliner Gefängnistheater: Die Gralsburg in der JVA
       
       > aufBruch ist Theater mit aufklärerischem Anspruch. Zum 20. Jubiläum der
       > Gefangenengruppe arbeiten Musiker der Berliner Philharmoniker mit.
       
   IMG Bild: Szene aus „Philoktet“ von Heiner Müller, vom aufBruch Gefängnistheater 2015 in der JFA Tegel gespielt
       
       Einen „Parsifal“ von Wagner in die JVA Tegel zu bringen, auf so eine Idee
       kommt nur die Gefangenentheatergruppe aufBruch. Sie feiert mit der
       Inszenierung, die Donnerstag Premiere haben wird, ihr 20-jähriges Jubiläum.
       Es ist der erste Ausflug ins klassische Opernfach. Die Arien der Kundry,
       gesungen von der Opernsängerin Judith Kamphues, treffen dabei auf die Chöre
       der männlichen Anstaltsinsassen. Das imposante Innere des um die vorletzte
       Jahrhundertwende gebauten Knastgebäudes, das heute leersteht, verwandelt
       sich in die mythische Gralsburg.
       
       „Hier haben wir vor über 20 Jahren angefangen. Es schließt sich damit ein
       Kreis“, blickt Bühnenbildner Holger Syrbe zurück. Syrbe war schon 1997
       dabei, als knapp zwei Dutzend Gefangene in der Performance „Stein und
       Fleisch“ die mehr als 100 Jahre alten Gemäuer in eine Gladiatoren-Arena
       transformierten und Episoden aus dem Leben des aufständischen Sklaven
       Spartakus zeigten.
       
       Dass aus dieser Produktion zwei Jahrzehnte Gefangenentheater entstehen
       würden, hielt Syrbe damals nicht für möglich. „Nein, das hätte ich mir
       nicht träumen lassen“, erzählt er und lacht. „Am Anfang ging ich davon aus,
       dass ich das zwei Jahre mache, und dann kommt etwas anderes. Die Arbeit ist
       aber spannend geblieben“, meint er. Und er beschreibt sogar ein Paradox:
       „Im Vergleich zum Stadt- und Staatstheater, wo ich ja auch häufig arbeite,
       haben wir bei unser kleinen Truppe eine größere künstlerische Freiheit. In
       den großen Häusern muss man manchmal etwas machen, womit man beauftragt
       ist. Hier aber entscheiden wir selbst über die Stoffe, die Orte und die
       Umsetzung.“
       
       Aktuell verwandelt Syrbe die alte Haftanstalt mit dem zentralen Turm im
       Inneren, von dem sternförmig die Gänge mit den massiv gemauerten Zellen
       abgehen, in die Gralsburg und auch in die Burg vom Zauberer Klingsor. Viel
       Material von außen mitbringen muss er nicht. Denn die Architektur ist
       selbst beeindruckend und einschüchternd wie eine mittelalterliche Festung.
       
       ## „Wahrheit, die von der Straße kommt“
       
       Für die Inszenierung sorgt Peter Atanassow. Der frühere Schauspieler
       übernahm 2002 die künstlerische Leitung des aufBruch Gefängnistheaters und
       drückte ihm seinen Stempel auf. Atanassows Spezialität sind die Chöre.
       „Das hat mich schon lange gereizt, noch vor der Arbeit mit den Gefangenen.
       Einar Schleefs Chorarbeit hat für mich das Theater wieder interessant
       gemacht“, erzählt er. „Das war eine Urgewalt, wenn 20 oder mehr Leute auf
       einen zugekommen sind. Man hat nur Fetzen verstanden, einzelne Wörter. Es
       war eine Masse, die spuckt und geifert. Das ist eine Art von Wahrheit, die
       von der Straße kommt“, begeistert er sich. Und während er Schleefs Chöre,
       etwa im „Sportstück“, als „hoch artifiziell“ und „Hochkultur“ beschreibt,
       hält er seine Chöre mit den Gefangenen für „pures Volkstheater“.
       
       Es ist ein Volkstheater mit aufklärerischem Anspruch. Atanassow hat die
       deutsche Dramatik von Schiller über Brecht bis Müller in die Berliner
       Gefängnisse gebracht. Oft kamen die Spieler durch aufBruch das allererste
       Mal mit diesen Texten in Berührung. Oft waren es nicht einmal deutsche
       Muttersprachler, sondern Männer vom Balkan, aus Afrika, aus den arabischen
       Ländern.
       
       In die Köpfe und Herzen der Männer dringen die Texte dennoch. Denn sie
       handeln meist von Dingen, mit denen sie auch konfrontiert sind: mit der
       Durchsetzung von Macht, dem Drängen nach Freiheit, der Auseinandersetzung
       mit Schuld – im „Wallenstein“ etwa, in der „Wolokolamsker Chaussee“.
       
       Die Chorarbeit hat auch praktische Effekte. In wenigen Wochen Probenzeit
       können Gemeinsamkeiten hergestellt werden. „Es ist eine Methode, ein
       Ensemble zu schaffen. Ein Chor funktioniert nach dem Gleichheitsprinzip.
       Jeder muss sich einbringen. Alle sind gleich, und jeder Fehler wird
       bemerkt. Ein Chor bringt aber auch den Einzelnen zum Leuchten. Er erfährt
       eine Individualität im kollektiven Arbeitsvorgang“, meint Atanassow. Er
       verweist dabei auf einfache Handgriffe etwa von Arbeitern der Müllabfuhr,
       wenn sie eine Tonne einklinken – und dabei trotz allem Gleichmaß des
       Vorgangs immer individuell wirken.
       
       ## Abwechslung zum Knastalltag
       
       Die individuelle Variation bei kollektiven Tätigkeiten macht einen starken
       ästhetischen Reiz dieser Theaterarbeit mit Laien aus. Die Gefangenen selbst
       bezeichneten in vielen Gesprächen nach den mittlerweile über 60
       Theaterproduktionen von aufBruch die Arbeit an und mit der Kunst vor allem
       als eine Erweiterung ihres Lebens, als eine willkommene Abwechslung zum
       Knastalltag.
       
       „Es findet eine Auseinandersetzung für sie statt, zuerst untereinander,
       aber auch mit uns als Personen von draußen und mit dem Stoff als etwas
       Drittes. Und da passiert etwas. Ihre Wahrnehmung wird verändert, ihr
       Horizont weitet sich. Darum geht es ja, auch vollzugstechnisch. Denn wenn
       die Leute wieder rauskommen, und 99 Prozent aller Leute kommen wieder raus,
       dann sollen sie die letzten Jahre ja nicht vollkommen isoliert verbracht
       haben und in der Lage sein, sich mit der vielfältigen Wirklichkeit
       auseinanderzusetzen“, meint Atanassow.
       
       Macht sein Theater aus den Gefangenen also „bessere Menschen“? Atanassow
       lacht. Er will Kunst machen und nicht Sozialarbeit betreiben.
       
       ## Gefragt bei Castingagenturen
       
       Einzelne Gefangene unter den mittlerweile etwa 1.500, mit denen aufBruch in
       Theaterproduktionen, Workshops und Filmprojekten zusammengearbeitet hat,
       haben selbst Schauspielerkarrieren gestartet. „Einige waren nach ihrer
       Entlassung bei unseren Projekten außerhalb des Knasts dabei. Viele unserer
       Jungs sind bei den Castingagenturen für den Film gefragt“, erzählt Syrbe.
       
       In den 20 Jahren ihrer Tätigkeit hat aufBruch erreicht, in allen Berliner
       Knästen inklusive Frauen- und Jugendgefängnis präsent zu sein.
       „Theaterarbeit ist im Knast als Normalität angekommen“, stellt Atanassow
       fest. Vor 20 Jahren war es noch exotisches Experiment. AufBruch, einst
       initiiert vom Performancekünstler Roland Brus, ist seitdem zu einer
       Produktionsfirma mit mindestens vier Theaterproduktionen pro Jahr und
       zahlreichen Workshops geworden. Die Gruppe organisiert auch die Arbeit
       anderer Künstler in den Gefängnissen.
       
       In der Zusammenarbeit mit dem Educationprogramm der Berliner Philharmonie
       entstand die Idee für „Parsifal“. Die Musiker kommen von der Philharmonie,
       die Spieler aus der JVA Tegel. Ritterwelten und Knastwelten sind dabei gar
       nicht so weit entfernt. „Es handelt sich doch auch beim ‚Parsifal‘ um
       Clanstrukturen, um Großfamilien. Parsifal ist der entfernte Verwandte, der
       irgendwie mitläuft – und der dann zu dem wird, der das gesamte System
       retten kann“, meint Atanassow. Zu einer gehörigen Portion Archaik,
       vielleicht näher dran am Mittelalter als jemals in Bayreuth, sind diese
       Ritterdarsteller aus dem Gemäuer von Tegel auf jeden Fall fähig.
       
       28 Feb 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tom Mustroph
       
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