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       # taz.de -- Die Arabistin, die niemand kennt: Die Jüdin und „Mein Kampf“
       
       > In der NS-Zeit arbeitete Hedwig Klein an einem Wörterbuch, mit dem
       > Hitlers Schrift übersetzt werden sollte. Geholfen hat es ihr nicht.
       
   IMG Bild: „Großes Maß an Scharfsinn und Fleiß“: die Islamwissenschaftlerin Hewdig Klein
       
       Hamburg taz | „Allah wird schon helfen.“ So drückt die damals 27-jährige
       Hamburgerin Hedwig Klein ihre Zuversicht aus. Sie ist
       Islamwissenschaftlerin und hat eigentlich an der Hamburger Universität
       Karriere machen wollen. Dem steht jedoch ein unüberwindliches Hindernis
       entgegen: Hedwig Klein ist Jüdin. Vom Dampfer „Rauenfels“ schreibt sie
       eine Briefkarte zurück nach Hamburg an ihren Fluchthelfer Carl August
       Rathjens. „Ich fühle mich bei dem schönen Wetter sehr wohl an Bord und
       mache mir im Augenblick keine Sorgen um die Zukunft.“
       
       Die Briefkarte datiert vom 21. August 1939. Vor zwei Tagen hat das Schiff
       Hamburg verlassen. Zielhafen: Bombay, Indien. Rathjens, ein
       Wirtschaftsgeograf mit Kontakten in viele Länder, hat der verfolgten Jüdin
       ein Visum für die britische Kronkolonie besorgt. Die Rettung scheint nahe
       und bleibt doch trügerisch. Hedwig Kleins Versuch der Emigration misslingt.
       
       Die letzte Hoffnung der Hamburger Jüdin sollte schließlich daran hängen,
       bei der Verbreitung des Antisemitismus in der Arabischen Welt behilflich
       sein zu dürfen. Am Ende arbeitete sie an einem Wörterbuch mit, das als
       Grundlage für die Übersetzung von „Mein Kampf“ ins Arabische dienen sollte.
       
       Hedwig Klein wurde 1911 als zweite Tochter des Ölgroßhändlers Abraham Wolf
       Klein und seiner Frau Recha geboren. Als Kind von nicht einmal fünf Jahren
       verlor sie ihren Vater. Er fiel im Ersten Weltkrieg 1916 an der Ostfront.
       
       Die Halbwaise Hedwig Klein ging in Hamburg zur Schule, legte 1931 die
       Reifeprüfung ab und schrieb sich an der Universität in den Fächern
       Islamwissenschaft, Semitistik und englische Philologie ein. Ihre
       Studentenkarte ist erhalten. Darauf gibt sie als Berufsziel „wissenschaftl.
       Bibliotheksdienst“ an.
       
       ## Einen Doktortitel durfte Klein nicht mehr tragen
       
       Kleins Studium gerät zum Wettlauf mit der sich verschärfenden Ausgrenzung
       der Juden im seit 1933 nationalsozialistischen Deutschland. Im Frühjahr
       1937 ist ihre Doktorarbeit fertig: die kritische Edition einer arabischen
       Handschrift über die islamische Frühgeschichte. Hedwig Klein beantragt die
       Zulassung zur Promotion. Mündlich wird ihr im Geschäftszimmer der
       Philosophischen Fakultät mitgeteilt, dass aufgrund eines Erlasses des
       Reichsministers für Erziehung und Volksbildung vom 15. 4. 1937 Juden ab
       sofort nicht mehr zur Doktorprüfung zugelassen seien.
       
       Hedwig Klein kämpft. Am 3. 5. 1937 richtet sie einen Brief an den Dekan,
       der mit den Worten beginnt: „Ich, Hedwig Klein, Jüdin deutscher
       Staatsangehörigkeit …“ Sie erläutert, wie viel Mühe sie in ihre Arbeit
       gesteckt habe. Außerdem erwähnt sie, dass ihr Vater im Kampf für das
       Deutsche Reich gefallen sei. Der Antrag schließt mit dem Satz: „Da der
       Ausschluss von der Doktorprüfung eine große Härte für mich bedeuten würde,
       bitte ich nochmals aus den angeführten Gründen um Zulassung.“
       
       Tatsächlich lässt sich die Leitung der Universität überzeugen. Auf der
       Zulassungsbescheinigung wird unter dem Namen Hedwig Klein angemerkt:
       „Jüdin, ausnahmsweise zugelassen.“ Die beiden Gutachter bewerten die
       Doktorarbeit mit der Bestnote „ausgezeichnet“. Dieses Ergebnis erzielt sie
       auch in der mündlichen Prüfung am 18. 12. 1937. Ihr Betreuer Arthur Schaade
       bescheinigt der jungen Wissenschaftlerin ein „Maß an Fleiß und Scharfsinn,
       das man manchem älteren Arabisten wünschen möchte“.
       
       1938 soll die Arbeit gedruckt werden. Die Promotionsurkunde ist schon
       aufgesetzt. Da zieht der Dekan der Philosophischen Fakultät sein
       „Imprimatur“ zurück. Er hatte bei einem Hamburger „Oberregierungsrat“ und
       beim Reichsministerium nachgefragt, ob denn eine Jüdin noch die Doktorwürde
       erhalten könne. Schließlich sei „das Judenproblem in Deutschland in ein
       neues Stadium getreten“. In der Pogromnacht des 9. 11. 1938 wird die gleich
       neben der Hamburger Universität gelegene Synagoge verwüstet. Auf dem
       Deckblatt der Promotionsakte von Hedwig Klein wird nun handschriftlich
       vermerkt: „Doktorbrief nicht erteilt, da Jüdin“.
       
       ## Die Emigration misslingt, weil der Krieg beginnt
       
       Spätestens da, so belegen es die erhaltenen Dokumente, denkt Hedwig Klein
       nur noch an Flucht. Aber verfolgten deutschen Juden stehen die Türen ins
       Ausland keineswegs offen. Ihre einzige Chance, ein Visum zu bekommen, liegt
       in ihrer beruflichen Qualifikation. Die verzweifelte Hamburgerin schickt
       per Post Hilferufe ins Ausland.
       
       Unterstützung erhält sie schließlich vom Hamburger Wirtschaftsgeografen
       Carl August Rathjens. Nach vergeblichen Anläufen in Frankreich und den USA
       wendet sich Rathjens an einen befreundeten Arabisch-Professor in Bombay.
       Dieser lädt die deutsche Wissenschaftlerin nach Indien ein. Die britischen
       Kolonialbehörden stimmen zu.
       
       Ausgestattet mit dem indischen Visum verlässt sie Hamburg am 19. 8. 1939 an
       Bord des Dampfers „Rauenfels“. Zwei Tage später schreibt sie ihre
       hoffnungsfrohe Karte an Rathjens. Aber dann wird die Fahrt nach Indien jäh
       gestoppt. Bei einem Zwischenhalt in Antwerpen bekommt der Dampfer den
       Befehl, innerhalb von vier Tagen einen deutschen Hafen anzulaufen. Das
       Schiff kehrt um, zurück nach Hamburg. Der Grund ist der deutsche Überfall
       auf Polen am 1. September – der Beginn des Zweiten Weltkriegs.
       
       Hedwig Klein erleidet jetzt „die ganze Quälerei“, wie Rathjens sich später
       ausdrücken wird, die alle deutschen Juden nach Kriegsbeginn durchmachen,
       vom Tragen des „Judensterns“ bis zur Vertreibung aus ihrer Wohnung und
       Zwangseinweisung in ein „Judenhaus“.
       
       Auch Rathjens wird wie ein Staatsfeind behandelt. Er war wegen „politischer
       Unzuverlässigkeit“ bereits 1933 aus seiner Beamtenstellung beim
       Hamburgischen Weltwirtschafts-Archiv entlassen worden. Anfang 1940 sperrt
       die Sicherheitspolizei ihn einen Monat ins KZ Fuhlsbüttel und verhört ihn.
       Nur mit Glück kommt er aus der „Schutzhaft“ wieder frei.
       
       ## Übersetzungshilfe für „Mein Kampf“
       
       Ihr alter Professor Arthur Schaade versucht noch einmal, etwas für Hedwig
       Klein zu erreichen. Er bringt „seine Wissenschaftlerin“ in Kontakt mit dem
       Arabisten Hans Wehr in Greifswald. Wehr ist 1940 in die NSDAP eingetreten.
       In einem Aufsatz empfiehlt er der Reichsregierung, sich „die Araber“ zu
       Verbündeten gegen England und Frankreich und auch gegen die Zionisten in
       Palästina zu machen.
       
       Die Reichsregierung, namentlich das Auswärtige Amt, sieht in Wehr jedoch
       vor allem aus einem anderen Grund einen wichtigen Mann. Er arbeitet an
       einem Wörterbuch für zeitgenössisches Arabisch. Dieses Hilfsmittel
       betrachten die Orientspezialisten des Auswärtigen Amts als unerlässlich, um
       eine gelungene Übersetzung des Werks „Mein Kampf“ von Adolf Hitler zu
       verfassen. Die bis dato erstellten Übersetzungen hatten sich nämlich als
       unzulänglich erwiesen. Wehrs Wörterbuch soll nun helfen, bei der Wortwahl
       „den Ton zu treffen“, der die arabischen Leser anspricht. Das Projekt wird
       mit Regierungsgeld gefördert. Und die Hamburger Jüdin Hedwig Klein soll für
       das Arabisch-Lexikon nun Einträge beisteuern. Das geschieht tatsächlich,
       wie aus Briefen hervorgeht, die in Schaades Nachlass aufbewahrt sind und
       die von der taz eingesehen werden konnten.
       
       So wertet Hedwig Klein Werke der neueren arabischen Literatur für das
       Lexikon aus. Sie verzeichnet Wortbedeutungen auf Zetteln und schickt diese
       per Post an die Redaktion. Für jeden Zettel bekommt sie 10 Pfennig Honorar.
       Wehrs Leute loben „die ausgezeichnete Qualität“ ihrer Beiträge. „Allerdings
       ist es natürlich völlig unmöglich, dass sie später unter den Mitarbeitern
       genannt wird“, schreibt ein Beteiligter am 8. 8. 1941 an Arthur Schaade.
       
       Ihre Mitarbeit bewahrt sie am 6. 12. 1941 vor der Deportation nach Riga,
       für die sie die Hamburger Sicherheitspolizei vorgesehen hat. Denn fünf Tage
       zuvor schreibt Schaade an die Behörden, dass „Wehrmacht und
       Kriegspropaganda in hohem Maße an der Fertigstellung des Werkes
       interessiert sind“. Fräulein Klein sei für die Mitarbeit an dem Lexikon
       „hervorragend qualifiziert“. „Leider reicht die Zahl der vorhandenen
       arischen Mitarbeiter nicht aus“, so Schaade weiter. Ihr Beitrag sei nun
       „dadurch in Frage gestellt, dass ihr die Verschickung nach dem Osten
       droht“.
       
       Schaade hat zunächst Erfolg. Seine ehemalige Doktorandin entgeht der
       Deportation. Ein halbes Jahr später kann er nichts mehr ausrichten. Am 11.
       7. 1942 wird Hedwig Klein mit dem ersten Zug, der von Hamburg nach
       Auschwitz fährt, abtransportiert. Das Konzentrations- und
       Vernichtungslager hat sie nicht überlebt. Auch ihre Schwester, ihre Mutter
       und Großmutter werden ermordet.
       
       ## Hedwig Klein wird posthum promoviert
       
       In einem für seine Zeit ungewöhnlichen Akt des Erinnerns lässt
       Wirtschaftsgeograf Carl August Rathjens sich im Sommer 1947 vom Amtsgericht
       Hamburg als Hedwig Kleins „Abwesenheitspfleger“ einsetzen. Dann lässt er
       ihre Doktorarbeit in 56 Exemplaren drucken. Am 15. 8. 1947 wird Hedwig
       Klein offiziell zum „Doktor der Philosophie“ erklärt.
       
       Physisch anwesend waren in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik am
       Orient-Seminar der Hamburger Universität andere. Zum Beispiel der
       Islamwissenschaftler Berthold Spuler. Während des Krieges war das
       NSDAP-Mitglied führender Mitarbeiter des Reichsministeriums für die
       besetzten Ostgebiete. Er half dabei, Muslime für den Krieg an Deutschlands
       Seite zu mobilisieren, auch unter sowjetischen Kriegsgefangenen. Von 1948
       bis 1980 war Berthold Spuler ordentlicher Professor für Islamkunde in
       Hamburg. Als Studenten im November 1967 ein Transparent mit dem Spruch
       „Unter den Talaren der Muff von 1.000 Jahren“ enthüllten, rief Spuler: „Sie
       gehören alle in ein Konzentrationslager!“
       
       Und Hans Wehr? Er musste nach dem Krieg vor eine
       Entnazifizierungskommission. Zu seiner Entlastung schrieb er am 20. 7.
       1947: „Eine jüdische Fachgenossin, Frl. Dr. Klein aus Hamburg, konnte ich
       1941 vor dem Abtransport nach Theresienstadt (sic) retten, indem ich sie
       für eine angeblich kriegswichtige Arbeit, eben für das arabische
       Wörterbuch, bei der Hamburger Gestapo anforderte.“ So steht es in seiner
       Entnazifizierungsakte. Wehr wurde als „Mitläufer“ eingestuft und musste
       36,40 DM „Sühnegeld“ und Verfahrenskosten bezahlen.
       
       Sein Wörterbuch, das bei der Übersetzung von „Mein Kampf“ helfen sollte,
       war vor Kriegsende nicht mehr gedruckt worden. Es erschien 1952. Im Vorwort
       dankt Wehr unter anderem einem „Fräulein Dr. H. Klein“ für ihre Mithilfe.
       Über ihr Schicksal verliert er kein Wort.
       
       Der „Wehr“, wie das „Arabische Wörterbuch für die Schriftsprache der
       Gegenwart“ kurz genannt wird, ist heute das meistbenutzte Arabisch-Lexikon
       auf der Welt. 2011 wurde die 5. Auflage neu gedruckt. Näheres zu „Fräulein
       Dr. H. Klein“ erfährt der Leser dort immer noch nicht. Auf Anfrage teilte
       der Harrassowitz Verlag der taz mit, dass eine Neuauflage in Planung sei.
       Der Verlag wolle den Bearbeiter fragen, ob er darin einen Hinweis „auf das
       zweifelsfrei tragische Schicksal Fräulein Kleins“ geben könne.
       
       9 Mar 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Buchen
       
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