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       # taz.de -- Letztes Buch des Soziologen Bauman: Fatale Geisterfahrt ins Gestern
       
       > Zygmunt Bauman ist im vergangenen Jahr gestorben. In „Retrotopia“
       > analysiert er, warum wir nicht mehr auf eine bessere Zukunft hoffen.
       
   IMG Bild: Die Utopien in heutigen Star-Trek-Filmen sind anders als in früheren
       
       Der Glaube daran, dass es besser ginge, ist der stärkste Motor der
       Menschheit. Auch nachdem der Planet weitgehend vermessen war und keine
       weißen Flecken blieben für glückselige Inseln à la Atlantis, gab es einen
       anderen Nicht-Ort für gesellschaftliche Utopien: die Zukunft. Doch damit
       sei nun erst mal Schluss, schreibt der vor einem Jahr verstorbene
       britisch-polnische Sozialphilosoph Zygmunt Bauman in seinem letzten Buch;
       es heißt „Retrotopia“. Denn die Mentalität der Mehrheit gehe auf Nummer
       supersicher, meint Bauman: zurück ans Stammesfeuer, zurück in den
       Mutterleib gar.
       
       „Das 20. Jahrhundert, das mit futuristischen Utopien begann, endete in
       Nostalgie“, schrieb Svetlana Boym, Literatur-Professorin in Harvard,
       ebenfalls verstorben, schon 2015. Die Welt leide an einer
       Nostalgie-Epidemie – also an der verzweifelten Sehnsucht nach Kontinuität
       in einer fragmentierten Welt. Zygmunt Bauman nimmt diese These zum
       Ausgangspunkt für seinen weitgreifenden Essay. Akademische
       Nischendiskussionen oder empirische Rechenschieberei sind Baumans Sache
       nicht. Bauman ist der Mann fürs große Ganze.
       
       Die Retrotopien, die nun die Macht ergriffen haben, versteht Bauman als
       „Visionen, die sich anders als ihre Vorläufer nicht mehr aus einer noch
       ausstehenden und deshalb inexistenten Zukunft speisen, sondern aus der
       verlorenen/geraubten/verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit.“ Auf die
       großen Fragen von heute werden Antworten gegeben, die schon gestern
       gescheitert sind, darunter die Revivals des Nationalismus.
       
       Stämme, Nationen und ihre Pseudo-Sicherheiten sind für Bauman „Produkte des
       allzumenschlichen Bedürfnisses, das Unverständliche fernzuhalten und damit
       die Lebensbedingungen auf ein menschlichem Sinnen und menschlichem Verstand
       begreif- und verarbeitbares ‚vernünftiges‘ Maß an Komplexität zu
       reduzieren.“
       
       ## Science-Fiction immer öfter Horror
       
       Bauman, der sich schon lange mit der „flüchtigen Moderne“, wie er sie
       nennt, herumgeschlagen hat, weiß: Die quälende Angst heutzutage, sich
       gesellschaftlich als unfähig zu erweisen, wirkt nicht minder brutal als der
       Konformitätsdruck früherer Jahrhunderte. Daher die Sehnsucht nach der
       vermeintlich schönen alten Welt. Ein Gestern, das durch selektive
       Gedächtnispolitik schöngemalt werde: „Genuine oder putative Aspekte der
       Vergangenheit, die angeblich erprobt sind und nur irrtümlich aufgegeben
       oder unbedacht dem Verfall überlassen wurden“ gelten, so Bauman, „als
       Hauptorientierung/Bezugspunkte für die Roadmap nach Retrotopia“. Eine
       fatale Geisterfahrt. Der Traum der Konservativen.
       
       Man könnte Bauman entgegenhalten: Schon das Schwelgen im guten alten
       Goldenen Zeitalter von Hesiod ist 300 Jahre älter als Platons utopischer
       Atlantis-Mythos. Und gewissermaßen sehnt sich ja auch Bauman zurück: in
       eine Zeit, da es noch Visionen gab. Doch Bauman geht es um einen
       gefährlichen Twist des Denkens, der sich akut in den vergangenen
       Jahrzehnten vollzog.
       
       Man schaue sich stellvertretend noch mal Folgen aus den späten 1980ern von
       „Star Trek: Das nächste Jahrhundert“ an; wie da von einer interplanetaren
       Gemeinschaft geträumt wurde, in der Kapitalismus und Rassismus überwunden
       sind. Und das in einer US-amerikanischen Serie während des Kalten Krieges!
       Man halte die aktuelle Serie „Star Trek: Discovery“ von 2017 dagegen:
       Intrigen, Komplotte, Horror. Bauman starb zu früh, um dieses popkulturelle
       Beispiel zu nennen, aber auch er weist darauf hin, dass Science-Fiction
       heutzutage immer öfter in die Sparte Horror fällt.
       
       ## Insel der narzisstischen Selbstbezüglichkeit
       
       Das ist kein Zufall, sondern ein Paradigmenwechsel. Wie Bauman unser Leben
       als das Leben in einer upgedateten Hobbes-Welt beschreibt, einem Krieg
       aller gegen alle mit allenfalls strategischen Adhoc-Allianzen – das raubt
       einem den Schlaf, wenn man nicht gänzlich abgestumpft ist.
       
       Bauman bereitet die Essenz geisteswissenschaftlicher Klassiker catchy für
       ein großes Publikum auf und verbindet sie mit Texten aus unserem
       Jahrtausend. All dies setzt er in Bezug zu unseren digitalen Gadgets, dem
       Internet als Insel der narzisstischen Selbstbezüglichkeit und zur
       Flüchtlingsfeindlichkeit.
       
       Bauman ist zu sehr Philosoph, um sich anzumaßen, alle Antworten gefunden zu
       haben. Aber sein Buch hält starke Impulse bereit, die Frage danach, wie
       sich an einer besseren Welt bauen ließe, nicht jenen Angstbesessenen zu
       überlassen, die meinen, die beste aller möglichen Zukünfte wäre die von
       gestern.
       
       22 Feb 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Hochgesand
       
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