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       # taz.de -- Amri-Untersuchungsausschuss startet: Viele Rätsel um Anis Amri
       
       > Im Bundestag startet ein neuer Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag
       > in Berlin. Bis heute sind zentrale Fragen ungeklärt.
       
   IMG Bild: Noch nicht geschreddert: Aktenordner im Fall Amri
       
       Berlin taz | Es wird der erste Untersuchungsausschuss dieser
       Legislaturperiode: Am Donnerstag konstituiert sich im Bundestag ein
       Ausschuss, der die Hintergründe des Terroranschlags vom Dezember 2016
       aufklären soll. Es war der bislang schwerste islamistische Terroranschlag
       in Deutschland. Zwölf Menschen wurden getötet, mehr als 60 verletzt. Täter
       war der tunesische Islamist Anis Amri, der auf der Flucht in Italien von
       Polizisten erschossen wurde.
       
       Obwohl zwei Sonderermittler und die Geheimdienstkontrolleure des Bundestags
       Berichte vorlegten, es im nordrhein-westfälischen Landtag und dem Berliner
       Abgeordnetenhaus bereits U-Ausschüsse gibt – viele Fragen sind auch mehr
       als ein Jahr nach der Tat ungeklärt. Besonders im Fokus wird nun die Rolle
       der Bundesbehörden stehen.
       
       Vor allem die Opposition hatte auf den Ausschuss gedrängt, als Letztes gab
       auch die Union nach. Ihre Fraktion wird nun den Ausschussvorsitzenden
       stellen: Armin Schuster, CDU, ein früherer Polizist. Eine umfassende
       Aufklärung sei man den Opfern schuldig, sagte er am Mittwoch. Die
       Hinterbliebenen wolle man gleich zu Beginn zu einem Gespräch einladen.
       Unionsobmann Stephan Mayer ergänzte: „Ich bin der festen Überzeugung, der
       Anschlag wäre vermeidbar gewesen.“ Der Ausschuss müsse klären, wie die
       Fehler künftig verhindert werden könnten.
       
       Nach einigem Gerangel einigten sich alle Fraktionen auf einen gemeinsamen
       Untersuchungsantrag, die AfD enthielt sich. Als einzige Fraktion hatte sie
       zuvor keinen Antragsentwurf eingebracht. Zu klären sind vor allem fünf
       Fragen.
       
       1. Warum verloren die Behörden Amri aus dem Blick? 
       
       Im Juli 2015 kam Anis Amri nach Deutschland. Schon im Oktober meldet ein
       Mitbewohner im Flüchtlingsheim in Emmerich (NRW), Amri habe Fotos von
       Schwarzgekleideten mit Kalaschnikows auf seinem Handy. Das Telefon wird ab
       November abgehört, weil sich der Tunesier im Kreis von Islamisten um den
       Hildesheimer Prediger Abu Walaa aufhält. Der gilt als Statthalter des IS in
       Deutschland. Die Beamten bemerken nun, dass Amri im Internet nach
       Bombenbaumaterialien sucht und mit zwei libyschen IS-Leuten chattet. Ein
       Polizeispitzel warnt, Amri wolle hier „für seinen Glauben kämpfen“, könne
       Kalaschnikows besorgen.
       
       Ab Februar 2016 wird Amri in NRW als Gefährder registriert, ab März auch in
       Berlin, wo er sich zunehmend aufhält. Hier erteilt die
       Generalstaatsanwaltschaft eine Genehmigung, Amri bis zum Herbst zu
       überwachen. Indes: Das LKA stellt die Beschattung bereits nach sechs Wochen
       ein. Die erfolgte ohnehin nur stundenweise, nachts und wochenends nie.
       Offenbar ist das LKA zu der Zeit völlig überlastet – während der Leiter des
       Islamismus-Dezernats dennoch Nebentätigkeiten nachging, wie die Zeit
       berichtete. Die Beamten halten Amri nun eher für einen Drogenhändler, nicht
       für einen Terrorverdächtigen.
       
       Auch im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum aller Sicherheitsbehörden wird
       eine Anschlagsgefahr von Amri wiederholt als „unwahrscheinlich“ eingestuft.
       Ab dem Herbst verschwindet der Tunesier dann völlig vom Radar – bis zum
       Anschlag am 19. Dezember.
       
       2. Wer half Amri? 
       
       Als Amri im Lastwagen zum Breitscheidplatz fuhr, übermittelte er noch eine
       Sprachnachricht. „Ich bin jetzt in der Karre. Bete für mich, Bruder.“ Laut
       Bundesanwaltschaft war der Kontaktmann ein IS-Mentor im Ausland, mit dem
       Amri spätestens seit November 2016 kommunizierte. Wer dies war, ist bis
       heute unklar.
       
       Dubios bleibt auch die Rolle von Bilal Ben Ammar: Dieser gehörte zu den
       engsten Bekannten Amris, seit Ende 2015 stand er mit ihm in Kontakt. Noch
       am Vorabend des Anschlags saßen beide in einem Imbiss zusammen, fünf
       Stunden vor der Tat telefonierten sie. Auch Ammar soll IS-Anhänger gewesen
       sein – im Februar 2017 wurde er nach Tunesien abgeschoben. Warum? Dazu gebe
       es eine Menge Vermutungen, sagt die Grünen-Obfrau Irene Mihalic. Das müsse
       geklärt werden. „Er ist mindestens ein Zeuge.“ Die Bundesanwaltschaft
       dagegen behauptet, der Mitwisserverdacht gegen Ammar habe sich nicht
       bestätigt.
       
       Aber: Amri bewegte sich in islamistischen Hotspots, im Abu-Walaa-Netzwerk
       und in der Berliner Fussilet-Moschee. Wurde er dort zum Anschlag
       angestachelt? Wie kam er an die Waffe, mit der er den Lkw-Fahrer erschoss?
       Klar ist: Amri verstand sich als Teil des IS. So bekundete er es in seinem
       Bekennervideo.
       
       3. Hätte Amri festgenommen werden können? 
       
       Abgehörte Telefonate legten offen: Der Tunesier dealte in Berlin in großem
       Stil. Nur wurden die Abhörprotokolle nicht oder zu spät ausgewertet. Sonst
       hätte man wohl einen Haftbefehl beantragen können. In einem LKA-Bericht war
       später nur noch die Rede von „Kleinsthandel“ – eine nachträgliche
       Manipulation, wie Innensenator Andreas Geisel (SPD) einräumte.
       
       Auch die anderen Delikte Amris – Diebstahl, zwei Prügeleien, zu Unrecht
       kassierte Sozialleistungen, 14 vorgetäuschte Identitäten – wurden nur
       einzeln verfolgt. Ein Haftbefehl war so nicht möglich. Auch eine
       Abschiebehaft unterblieb. Zuerst scheiterte sie an fehlenden Papieren aus
       Tunesien. Angeblich lagen Amris Handflächenabdrücke für Ersatzpapiere nicht
       vor. Die aber gab es sehr wohl: beim BKA. Auch als Tunesien Amri im Oktober
       2016 schließlich offiziell identifiziert, gibt es keine Abschiebehaft. Ein
       Fehler, wie es heute heißt.
       
       Genauso wie der 29. Juli 2016: Der Tag, an dem Amri doch festgenommen
       wurde, in Friedrichshafen. Der Tunesier wollte mit einem Flixbus nach
       Zürich, hatte gefälschte Papiere bei sich. Der Haftrichter wurde aber nicht
       informiert, wen er vor sich hatte: Amri wird zwei Tage später wieder
       entlassen.
       
       4. Wurde Amri bewusst nicht festgesetzt? 
       
       War der Tunesier womöglich ein „Nachrichtenmittler“, wie es im
       Untersuchungsauftrag heißt? Ließ man ihn also gewähren, um mehr über das
       Abu-Walaa-Netzwerk zu erfahren, dem die Ermittler schon so lange auf der
       Spur waren?
       
       Der Grüne Christian Ströbele, bis zur Wahl einer der
       Geheimdienstkontrolleure im Bundestag, geht noch weiter: Wegen
       „übergeordneter Interessen“ könne es eine „schützende Hand“ über Amri
       gegeben haben. Hintergrund sei, dass die US-Armee im Frühsommer 2016
       IS-Stellungen in Libyen bombardierte. Laut einem CNN-Bericht gibt es einen
       Zusammenhang zum Breitscheidplatz-Anschlag. Die Vermutung: Amri, der über
       längere Zeit mit zwei IS-Männern in Libyen chattete und dessen Handy
       abgehört wurde, könnte die USA an ihr Ziel geführt haben. Die Chatpartner
       konnten aber laut Bundesanwaltschaft nie identifiziert werden. So bleibt
       unklar, ob die USA sie bei ihrem Angriff trafen.
       
       Eins beteuern die Sicherheitsbehörden bis heute: Amri selbst sei kein
       V-Mann gewesen.
       
       5. Hat ein Polizeispitzel Amri angestachelt? 
       
       Eigentlich war das Landeskriminalamt in NRW über „Murat“ sehr froh: Mit
       „VP-01“, so der offizielle Deckname des Deutschtürken, dessen tatsächlicher
       Name geheim ist, hatte die Behörde einen Spitzel in der Islamistenszene
       platziert. Später spielten sie ihn an die Top-Figur Abu Walaa heran.
       „Murat“ war es auch, der das LKA früh vor Anis Amri warnte. Er blieb an dem
       Tunesier dran, fuhr ihn später sogar einmal nach Berlin.
       
       War „Murat“ zu nah dran? War er gar ein Agent Provocateur, der Amri zu
       seinem Anschlag anstachelte? Die Vorwürfe kommen von Islamisten aus dem
       Umfeld Abu Walaas. Allerdings soll Amri schon drei Monate vor dem Anschlag
       gewusst haben, dass „Murat“ ein Spitzel war. Auch Abu Walaa hatte im
       September 2016 seine Anhänger vor dem „Spion“ gewarnt.
       
       Welche Rolle „Murat“ wirklich spielte, wird der Ausschuss klären müssen.
       Wusste Murat von Amris Anschlagsplänen? Erzählte er seinem V-Mann-Führer
       davon? Ist er tätig geworden, um den Anschlag zu verhindern? „Die Frage
       ist, ob er sich als Polizist an das Legalitätsprinzip gehalten hat“, sagt
       Linkenobfrau Martina Renner. „Oder hat er Informationsgewinnung vor
       Gefahrenabwehr gestellt?“
       
       1 Mar 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sabine am Orde
   DIR Konrad Litschko
       
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