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       # taz.de -- Kolumne Die eine Frage: Heimat ist kein Kirchturm
       
       > Winfried Kretschmann will Union und AfD die Zuständigkeit für
       > „konservative“ Probleme wegnehmen. Was heißt das für die Bundesgrünen?
       
   IMG Bild: Die Welt der Schrankwände wollten wir verlassen. Weil sie konservativ war. Und heute?
       
       Klar, wir sind damals aus der Provinz in die Welt geflohen, weil wir die
       Hegemonie der Enge, der Fremdenskepsis, der Schrankwände, der autoritären
       Lehrer, Kruzifixe, Stammtische, Jodelfeste, Gesang- und Kriegerlesvereine
       nicht aushielten. Das war konservativ und konservativ war scheiße.
       
       Aber heute stellt sich das Problem anders. Menschheitsgeschichtlich sind
       wir zur besten Zeit am besten Ort, aber auf dem Land – und nicht nur dort –
       leben Menschen, denen die Schulen fehlen, die Vereine, die Kneipen und
       überhaupt das Gemeinsame, das ihnen das Gefühl gibt, Teil von etwas zu
       sein. Dazuzugehören. Das ist der zentrale Begriff, um die Welt zu
       verstehen. Die Leute haben, wie der Soziologe Armin Nassehi sagt,
       „konservative Bezugsprobleme“.
       
       Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg hat den Wettbewerb um Wähler
       mit konservativen Bezugsproblemen längst aufgenommen. Sonst regierte er ja
       nicht mit der CDU.
       
       Aber er hat eine neue Dimension erreicht mit seinen jüngsten Ausführungen
       und der Aufforderung, „Möchtegern-Konservative in der Union“ wie Alexander
       Dobrindt sollten sich ihr nächstes „Was ist konservativ“-Papier lieber von
       ihm schreiben lassen: „Dann würdet ihr euch nicht so blamieren“, [1][sagte
       Winfried Kretschmann im taz-Gespräch].
       
       Die Union weiß wirklich nicht, was heute „konservativ“ sein soll, von der
       AfD gar nicht zu reden. So wie die SPD nicht weiß, wie „soziale
       Gerechtigkeit“ in der liberalen, postindustrialisierten, europäischen
       Gesellschaft gehen soll. Aber es reicht eben nicht, zu sagen, dass
       Dobrindts „neue, konservative Bürgerlichkeit“ zur Ablösung der angeblichen
       linken Elitenbewegung von 1968 ein Schmarren ist.
       
       Und wer immer nur die genau dafür entwickelten Nazi-Marketingsätze der
       Reaktionären mit seiner noch so ehrlichen Empörung multipliziert, der
       stärkt sie.
       
       Gerade wenn die AfD reaktionäre und rassistische Politik mit dem Begriff
       „konservativ“ labelt und die CSU und Teile der CDU hinterher hotten,
       braucht es einen ernsthaften, intellektuellen Gegenentwurf – und den hat
       Kretschmann in der taz skizziert.
       
       Wie auch bei seinen Heimatüberlegungen ist das Entscheidende: Er erkennt
       das konservative Bezugsproblem. Aber er bezieht es nicht auf konservative
       oder gar reaktionäre Inhalte. Die Ehe für alle etwa ist eine moderne
       Antwort auf ein konservatives Bezugsproblem. Aber eben ganz und gar keine
       reaktionäre Familienpolitik.
       
       ## Sich schön finden reicht nicht
       
       Wer den Begriff Heimat der AfD überlassen will, weil „naziverseucht“, der
       hat nichts kapiert. Heimat ist kein Kirchturm, keine „Leitkultur“, keine
       Hymne und kein Sepplhut. Heimat ist die Sicherheit, dass man dazugehört und
       von anderen Menschen und der Gesellschaft nicht fallen gelassen wird.
       Dieses konservative Bedürfnis hat fast jeder.
       
       Um es auf den Punkt zu bringen: Wenn die Grünen, wie ihr
       Co-Parteivorsitzender Robert Habeck das skizziert, radikale Zukunftspolitik
       in Deutschland durchsetzen wollen – Linderung der Erderhitzung,
       Transformation der Wirtschaft und Entwicklung Europas – dann darf das
       Hauptziel des neuen Grundsatzprogramms nicht sein, sich im Spiegel schön
       finden zu wollen.
       
       Um den Klimawandel zu mildern und die Gesellschaften zu bewahren, müssen
       die Grünen führende Wirtschaftspartei neuen Typs werden. Wie soll das sonst
       gehen? Und um die offene emanzipatorische Gesellschaft voranzubringen,
       müssen sie auch die konservativen Bezugsprobleme von Leuten respektieren
       und lösen, die anders drauf sind als sie. Der zentrale Kultur- und
       Gerechtigkeits-Kompromiss wird sein, wie wir es in der EU mit der
       Einwanderung halten.
       
       Robert Habeck wollte eine richtig große Aufgabe: Er hat sie bekommen.
       
       3 Mar 2018
       
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