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       # taz.de -- Historiker über Rechtspopulismus: „Vielleicht ist das Schlimmste vorbei“
       
       > Der Historiker Ian Kershaw spricht über die Stärke westlicher
       > Demokratien, Europa und Rechtspopulisten im Vergleich zu den Zeiten vor
       > 1945.
       
   IMG Bild: „Die Demokratie ist in Westeuropa nicht umstritten, anders als damals“ (Archivbild 2017)
       
       taz am wochenende: Herr Kershaw, Sie haben gerade den zweiten Band Ihrer
       Geschichte Europas im 20. Jahrhundert beendet. Der erste heißt
       „Höllensturz“ und geht bis 1949. Erlebt Europa derzeit einen neuen
       Höllensturz? 
       
       Ian Kershaw: Nein. Ich glaube, wir haben sogar etwas Grund zum Optimismus.
       Natürlich bleiben die langfristigen Probleme, wie die Folgen von
       Globalisierung und die Massenmigration. Und wir haben Probleme mit
       Populismus, wenn man nach Polen und Ungarn schaut oder gar in die Türkei
       oder nach Russland. Aber die demokratischen Kräfte in Europa sind stark,
       mit der Wirtschaft geht es bergauf. Das ist ganz anders als in den 1920er
       und 1930er Jahren. Vielleicht ist das Schlimmste schon vorbei. Sollte sich
       der französische Präsident Emmanuel Macron durchsetzen und Deutschland
       mitmachen, dann könnte es frischen Wind für die Europäische Union geben.
       
       Mit Blick auf die Erfolge der Rechtspopulisten wird derzeit über Parallelen
       zwischen der Entwicklung in der Weimarer Republik und der von heute
       debattiert. Ist das sinnvoll? 
       
       Ich denke, nein. Die Parallelen sind eher banal und helfen zum Verständnis
       wenig weiter. Ich sehe vor allem Unterschiede. Natürlich gibt es in
       Deutschland fast 13 Prozent für die AfD, und Teile dieser Wähler sind
       wahrscheinlich Antidemokraten. Aber viele sind auch Protestwähler. Die
       anderen Parteien sind viel solider als die der Weimarer Zeit. Damals gab es
       die Schwäche der bürgerlichen Mitte, die konservativen Parteien haben
       versagt. Es gab ein Vakuum. Die Wähler gingen erst zu Splitterparteien, und
       schließlich sammelten sie sich bei der NSDAP. Die Demokratie heute ist
       gefestigt und Deutschland ist – sehr wichtig – ein wirtschaftlich
       erfolgreiches Land.
       
       Man kann die Entwicklung in Europa auch pessimistischer sehen: Europa
       kämpft noch immer mit den Folgen der Finanzkrise, die Europäische Union ist
       geschwächt, antidemokratische Haltungen gewinnen an Zustimmung,
       Nazibegriffe wie „Lügenpresse“ und „Volksverräter“ breiten sich aus, in
       Deutschland zerlegt sich die SPD, und die Regierungsbildung dauert … 
       
       Das stimmt alles. Aber es gibt keine Staats-, System- oder Kulturkrise. Die
       Demokratie ist in Westeuropa nicht umstritten, anders als damals.
       
       Und in Osteuropa? 
       
       In Polen oder Ungarn ist die Ausgangslage anders. Beide kannten vor dem
       Zweiten Weltkrieg überwiegend nur autoritäre Systeme, dann wurden sie
       zuerst besetzt und hatten dann 40 Jahre lang Kommunismus. Erst 1990
       errangen sie ihre nationale Unabhängigkeit. Es folgten schwierige Jahre.
       Die Blütezeit der Demokratie währte vielleicht zehn Jahre. Dann kamen
       Finanz- und vor allem Migrationskrise, die als Bedrohung der neu erkämpften
       nationalen Identität wahrgenommen wurden. Und die EU erwies sich nicht als
       Bollwerk gegen diese Bedrohungen. In diesen Staaten ist die Demokratie
       nicht so verwurzelt wie in Westeuropa oder den USA.
       
       Auch in den USA sehen wir gerade, wie etwas ins Rutschen geraten kann.
       Präsident Donald Trump schießt ja systematisch demokratische Institutionen
       an – die unabhängige Justiz und die Medien zum Beispiel. 
       
       Trump ist ohne Zweifel eine Gefahr. Aber die demokratischen Institutionen
       verteidigen sich. Ich bezweifele, dass es in den USA zu einer
       Verfassungskrise kommt. Und selbst wenn, wäre es nicht klar, ob Trump oder
       seine Widersacher am Ende gewinnen würden. Hoffentlich bleibt er nur vier
       Jahre Präsident und wird danach nicht wiedergewählt.
       
       Auch bei Ihnen in Großbritannien waren die Rechtspopulisten – die Ukip und
       ihr ehemaliger Frontmann Nigel Farage – erfolgreich. Sie haben ihr größtes
       Ziel durchgesetzt: den Brexit. 
       
       Ja, und das deprimiert mich zutiefst. Aber es ist auch eine Chance für die
       EU, notwendige Reformen in Angriff zu nehmen. Der Schock über den Brexit
       hat Europa ein bisschen aus seiner Selbstgefälligkeit gerissen. Die
       Mehrheit in Großbritannien war lange gegen den Austritt, das kam
       kurzfristig. Es führt eine direkte Linie vom Bankencrash 2008 über die
       Migrationskrise 2015 hin zum Brexit. Die Ukip – wie die Kampagne für den
       Brexit – konnte nur deswegen so stark werden. Sie kamen in dem Slogan „Take
       back control“ zusammen. Aber derzeit liegt die Ukip nur noch bei 0,8
       Prozent, bei der Europawahl 2014 war sie noch Großbritanniens stärkste
       Partei.
       
       Wie kam das? 
       
       Das Ziel der Ukip ist erreicht. Die Partei hat sich selbst erledigt. Viele
       Stimmen für die Ukip waren Konjunkturstimmen. Die Leute haben jetzt nicht
       ganz andere Vorstellungen, aber da diese Vorstellungen auch von anderen
       Parteien aufgenommen und zum Teil umgesetzt werden, wählen ehemalige
       Ukip-Anhänger zum Beispiel wieder konservativ.
       
       Ist die Übernahme rechtspopulistischer Parolen eine gute Strategie? 
       
       Ich hasse das, aber es ist erfolgreich. Das kann man auch in den
       Niederlanden sehen. Und ich vermute, hier bei Ihnen wird das auch der Fall
       sein. Wenn die CSU, die zwar eine rechte, aber eine demokratische Partei
       ist, bei der Landtagswahl einen Teil der AfD-Stimmen zurückgewinnt, bleiben
       diese in den demokratischen Strukturen und sind harmloser.
       
       Der Preis dafür ist, dass sich der gesamtgesellschaftliche Diskurs und die
       Politik im Sinne der Rechtspopulisten verschiebt. 
       
       Ein hoher Preis. Aber es ist besser, wenn diese Stimmen bei der CSU als bei
       der AfD sind, also innerhalb und nicht außerhalb eines demokratischen,
       pluralistischen Systems.
       
       Herr Kershaw, man kann sich derzeit viele Sorgen um die Demokratie machen,
       Sie aber klingen optimistisch. Woher kommt das? 
       
       Ich sehe die Chance, dass bei all den Problemen das Interesse an der
       Demokratie neu mobilisiert wird. Ich kann die Ablehnung des
       wirtschaftlichen und politischen Establishments mitunter nachvollziehen.
       Die Krise der Demokratie hat in Großbritannien in den 70er und 80er Jahren
       begonnen. Denken Sie an Margaret Thatchers Durchsetzung neoliberaler
       Reformen. Es wäre insgesamt an der Zeit, die Demokratie näher an die Massen
       zu bringen und ihnen zu zeigen, dass es in ihrem Interesse ist, an der
       Demokratie teilzuhaben.
       
       Und wie kann das gehen? 
       
       Ich habe natürlich auch kein Patentrezept, aber ich glaube, wir brauchen
       Politiker mit Mut, die bereit sind, auch einmal etwas Neues zu wagen. Ich
       setze, wie gesagt, viele Hoffnungen auf Macron, um die EU Schritt für
       Schritt zu reformieren. Man könnte, entsprechend dem Internationalen
       Währungsfonds, einen Eurofonds aufbauen. Oder einen Außenminister
       einsetzen. Europa muss seine Identität finden – vielleicht zum Teil über
       Dezentralisierung und mehr Demokratisierung an der Basis.
       
       Derzeit sehen wir aber die Rückkehr zum Nationalen und eine EU, die sich
       noch nicht mal über die gerechte Verteilung von Geflüchteten einig werden
       kann. 
       
       Natürlich gibt es viele Anlässe, pessimistisch zu sein. Aber es gibt auch
       eine starke Verankerung von Strukturen und Gedanken der Europäischen Union.
       Die Migrationskrise bleibt ein großes Problem. Wir sind aber über die
       andere große Krise, die Finanzkrise, hinaus. Darauf kann man aufbauen. Aber
       ich möchte noch einmal auf die Frage davor zurückkommen. An Labour-Chef
       Jeremy Corbyn sieht man, dass man erfolgreich gegen Konservative und auch
       die populistische Rechte mobilisieren kann. Corbyn hat klargemacht, dass
       man den Neoliberalismus nicht hinnehmen muss, sondern etwas ändern kann.
       
       Sehen Sie in der deutschen Politik jemanden, der bereit ist, Neues zu
       wagen? 
       
       Nein, leider nicht. Ich hatte große Hoffnungen auf Martin Schulz gesetzt,
       aber das hat leider nicht funktioniert. Die künftige Regierung hat dennoch
       jetzt eine Chance, das Soziale an der sozialen Markwirtschaft stärker zu
       betonen. Die Sozialdemokratie stirbt in fast allen Ländern. Sie braucht
       dringend neue Impulse. Vielleicht könnten sogar die Jusos, wie die
       jugendlichen Anhänger von Corbyn in Großbritannien, die Basis neu
       mobilisieren und etwas in Gang bringen.
       
       4 Mar 2018
       
       ## AUTOREN
       
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