URI: 
       # taz.de -- Vorabdruck „Berlin – Stadt der Revolte“: Von Gammlern und Hippies
       
       > Michael Sontheimer und Peter Wensierski erzählen die Geschichte des
       > rebellischen Ost- und Westberlins seit den 60ern.
       
   IMG Bild: Sanftmütig, philosophisch und für den Cannabiskonsum: Alkohol verachteten die deutschen Hippies
       
       Als Werner Dralle seine Teestube eröffnete, war er 25 Jahre alt und gerade
       aus Bremen nach Westberlin gekommen. In der Xantener Straße 9 hatte er
       Ladenräume gefunden, die Vermieterin war die Frau des Rechtsanwalts
       Heinrich Hannover. Da die Eröffnung am 21. Mai 1969 stattfand, nannten
       Dralle und seine Mitstreiter sie 21.-Mai-Teestube. Aber da sie die erste in
       der Mauerstadt war, hieß sie allgemein nur Teestube.
       
       Um die Renovierung des Ladens machte sich die Künstlerin Sara Schumann
       verdient. Sie schluckte eine Pille des populären Aufputschmittels Captagon
       nach der anderen und malte zwei Tage und Nächte lang ein surrealistisches
       Wandbild. Als Schumann unbedingt eine ausgestopfte Möwe in das Bild
       integrieren wollte, besorgte ihr Dralle eine. Schumanns Bild wurde
       allerdings bald beschädigt, und Dralle klebte Lebkuchen drauf, tapezierte
       die ganze Wand mit Lebkuchen. Die Gäste kratzen sie runter und aßen sie.
       
       Dralle erinnert sich: „Ich wollte eigentlich gar keinen Drogenladen machen,
       sondern einen Diskutierladen für politisch interessierte Leute. Aber es
       wurde sofort gekifft. Es ließ sich gar nicht verhindern, dass die Teestube
       ein Drogenladen wurde. Die Atmosphäre war friedlich und entspannt.“
       
       Wer sich allerdings in der Teestube Alkohol zuführte, war gleich
       verdächtig, ein „Zivi“ zu sein, ein Polizist in Zivil. Getrunken wurden Tee
       und Fruchtsäfte. Geöffnet war vom frühen Nachmittag bis zum frühen Morgen.
       Vor der Teestube saßen Hippies entspannt auf den Autos. Dealer trafen ihre
       Kundschaft in den Hauseingängen, doch vor der Polizei mussten sie
       eigentlich noch keine Angst haben. Die Ordnungshüter waren noch sehr naiv,
       was Drogen anging. Sie hatten keine Ahnung, was das war und wie die
       einzelnen illegalen Substanzen aussahen.
       
       Zu den Stammkunden der Teestube gehörte Bommi Baumann, 1947 in Ostberlin
       geboren, später mit seiner Familie in den französischen Sektor geflohen. Er
       lernte Betonbauer, aber das ödete ihn an. Seinen ersten Joint hatte er 1966
       in der Dicken Wirtin am Savignyplatz in Charlottenburg geraucht.
       Abenteuerlustige Bekannte waren nach Marokko gereist und hatten eine
       Substanz mitgebracht, die Haschisch hieß. Baumann und seine Freunde hatten
       gehört, dass man Haschisch-Krümel mit Tabak vermischen und die Mixtur
       rauchen solle. Sie versuchten es, aber eine nennenswerte Wirkung blieb aus.
       Dies änderte sich, nachdem sie die Übung ein paarmal wiederholt hatten.
       „Wir fingen an zu lachen“, erinnerte sich Baumann. „Das war sehr angenehm.“
       
       Bis zu diesen Erlebnissen hatten die „Gammler“, wie Bommi Baumann und seine
       Freunde genannt wurden, die Lambrusco-Flaschen kreisen lassen, vielleicht
       mal Captagon-Aufputschpillen geschluckt oder den Hustensaft Romilar, der
       das Opiat Kodein enthielt.
       
       Cannabis gab es bis Mitte der sechziger Jahre in Deutschland praktisch
       nicht. Die Zeitungen berichteten, dass ein Gericht in England Keith
       Richards, den Gitarristen der Rolling Stones, zu einer Haftstrafe
       verurteilt hatte, weil er in seinem Haus den Konsum von Cannabis geduldet
       hatte. Bob Dylan, hieß es, habe die Beatles in den Genuss des indischen
       Hanfs eingeführt. Genaueres war nicht bekannt.
       
       Dies änderte sich innerhalb von ein, zwei Jahren grundlegend. Die Gammler
       wurden nun nach US-amerikanischem Vorbild Hippies genannt. Nicht nur in
       Westberlin, auch in anderen Großstädten öffneten Teestuben ihre Pforten. In
       Sperrmüllsesseln versunken, rauchten dort sanftmütige junge Hippies ihre
       Joints, spielten Go oder Schach, philosophierten über den Sinn des Lebens
       und tranken dazu Tee und Saft. Alkohol verachteten sie. In Westberlin
       verlagerte sich die Szene abends ins Zodiak am Halleschen Ufer oder die
       Diskothek Park am Kurfürstendamm.
       
       Schon früher hatten einzelne Intellektuelle mit Drogen experimentiert. Der
       SPD-Gründervater Ferdinand Lasalle etwa hatte in Berlin seinen Gästen im
       Jahr 1858 Haschisch gereicht. Der Philosoph Walter Benjamin oder der
       französische Poet Charles Baudelaire hatten es genommen. Die Schriftsteller
       Aldous Huxley und Ernst Jünger hatten LSD probiert, eine halluzinogene
       Substanz, die der Schweizer Chemiker Albert Hofmann erfunden hatte. Ende
       der sechziger Jahre wurden diese anfangs elitären Drogenreisen dann zu
       einem Massenphänomen. Jugendliche erhofften sich von Drogen den
       „Durchblick“, entscheidende Erkenntnisse bei der Suche nach dem Sinn des
       Lebens.
       
       Der Schweizer Orientalist Rudolf Gelpke, wie der amerikanische
       Drogenapostel Timothy Leary selbst ein leidenschaftlicher Drogenkonsument,
       tauchte in Berlin als wissenschaftlicher Gutachter in Prozessen gegen
       Kiffer auf. Er attestierte den jungen Hippies, dass sie ausbrechen wollten
       aus „jener sterilen Sicherheit von Familienharmonie und Volkswohlfahrt, von
       Sonntagsspaziergängen und Gärtchenglück“.
       
       Wenn die Hippies einen Joint drehten oder einen LSD-Trip einwarfen, kamen
       sie sich als etwas Besseres vor als ihre Eltern, schon weil die Alkohol
       tranken, der oft aggressiv machte. „Wir schwebten über den Dingen“,
       erinnerte sich Bommi Baumann, „und sagten zum Rest der Welt: Ihr habe keine
       Ahnung, was wirklich schön ist.“ Untermalt von passender Musik kamen
       Millionen junger Menschen in der westlichen Welt erstmals in den Genuss
       eines Gemeinschaftserlebnisses, bei dem sie ein uraltes Bedürfnis
       befriedigen konnten: die Sehnsucht nach Transzendenz, nach Einheit mit dem
       Kosmos und mit anderen Menschen.
       
       Im November 1969 hatten auch die Redakteure des Spiegel mitbekommen, dass
       Cannabis sich bei jungen Menschen in der Bundesrepublik immer größerer
       Beliebtheit erfreute. Sie veröffentlichten eine Coverstory mit dem Titel:
       „Die Haschisch-Welle“. Darin fabulierten die Journalisten: „Selbstvergessen
       hocken sie im glimmenden Schummerlicht eines weitläufigen Beatschuppens und
       vibrieren innerlich zu den Conga-Trommeln und Elektro-Orgeln stereophoner
       Rockmusik, die aus den Verstärkern über ihre geneigten Köpfe taucht.“
       
       Die Polizei hatte 1960 bundesweit nur anderthalb Kilogramm Haschisch
       beschlagnahmt, in den ersten neun Monaten des Jahres 1969 waren es schon
       mehr als anderthalb Tonnen, Tendenz stark steigend. Aber sowohl Mediziner
       und Strafverfolger als auch Politiker hatten keine Ahnung, welche Wirkung
       die aus dem Orient stammenden illegalen Drogen hatten. Die
       Gesundheitsministerin Käte Strobel (SPD) schwafelte von „Haschisch und
       anderen Opiaten“.
       
       Bommi Baumann, Dieter Kunzelmann von der Kommune 1 und andere Drogenfreunde
       nannten sich „Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen“ und gaben die
       Parole aus: „High sein, frei sein, Terror muss dabei sein!“
       
       Dralle, der Begründer der Teestube in der Xantener Straße 9, erinnert sich:
       „Einmal waren Kunzelmann und seine Truppe da. Die fingen an, die Steine aus
       dem Gehwegpflaster zu pulen. ‚Was soll das denn?‘, fragte ich sie. ‚Wir
       haben einen Bullenwagen gerufen‘, sagte einer, ‚und wenn der kommt, dann
       schmeißen wir Steine auf den.‘ Ich konnte sie überzeugen, den Quatsch
       besser zu lassen. Sie zogen dann zu einer Filiale der Deutschen Bank um die
       Ecke und warfen dort die Scheiben ein. Westberlin war sehr schräg damals.“
       
       Bei etlichen der Haschrebellen und auch der weniger politischen
       Drogenfreunde blieb es nicht lange beim Kiffen. Der Slogan der
       Haschrebellen „Haschisch, Opium, Heroin, für ein freies Westberlin“ ließ
       erahnen, dass sie das Suchtpotenzial von Opiaten fatal unterschätzten. Ein
       junger Berliner Chemiestudent kochte Morphinbase mit Essigsäure auf und
       kreierte so die „Berliner Tinke“, eine Art Heroin light. Das Gebräu wurde
       löffelweise verkauft und intravenös gespritzt.
       
       Hatten zunächst Freunde für Freunde Drogen aus Marokko oder Indien
       mitgebracht, so zog spätestens mit dem Heroin ein knallharter Kapitalismus
       ein. Professionelle Dealer sorgten nun für die Distribution. Das lukrative
       Geschäft mit den Kilos übernahmen vorwiegend Iraner und Türken, auf der
       Straße verkauften deutsche Junkies kleine Portionen, meist um ihre eigene
       Sucht zu finanzieren.
       
       Dralle, der Begründer der Teestube, hat die Kurve gekriegt und hat sich
       nicht mit Drogen ruiniert. Er möchte die Zeit keineswegs missen. Er
       erinnert sich, wie Carmen, ein berühmter, sehr schöner Transvestit, in die
       Teestube kam und Haschisch kaufte. Und an die Zuhälter, die die Dealer
       fragten: Kann man mit den Drogen Kohle machen? Allerdings beschwerten sich
       ständig Anwohner über den nächtlichen Lärm. Dralle hatte schon nach zwei
       Jahren die Nase voll und verkaufte den Laden an einen Bekannten. Der
       allerdings wurde wegen Haschischhandels in der Türkei zu drei Jahren
       Gefängnis verurteilt. Also wurde die Teestube geschlossen.
       
       Werner Dralle ist heute ein gesetzter Herr, fährt einen SUV und wohnt in
       Pankow. In der einstigen Teestube ist eine Pizzeria. Nebenan hat der
       Achtundsechziger-Chronist Peter Schneider seit Jahrzehnten eine
       Arbeitswohnung. Er hatte nichts mit den Drogenfreaks zu tun und erinnert
       sich nur vage daran, wie eine Zeit lang die Langhaarigen den Anfang der
       Straße belagerten.
       
       Die meisten der Haschrebellen der Swinging Sixties sind inzwischen tot.
       Manche starben an einer Überdosis, andere an den Folgen ihres ruinösen
       Lebenswandels. Baumann wurde opiatabhängig. Er nahm, mit einer Pause von 15
       Jahren, seit 1969 Opiate, zuletzt Methadon. Er starb im Juli 2016 an einer
       Leberzirrhose.
       
       Bei seiner Beerdigung auf dem Friedhof an der Friedenstraße in
       Friedrichshain sagte ein Freund: „Es ist schon ein Wunder, dass der gute
       Mann überhaupt 69 Jahre alt geworden ist; bei den Unmengen von Gift, die er
       genommen hat.“ Seinen jahrzehntelangen Opiatkonsum erklärte Bommi selbst
       mit dem Spruch: „Irgendein Hobby braucht doch jeder.“
       
       5 Mar 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Sontheimer
   DIR Peter Wensierski
       
       ## TAGS
       
   DIR Hippies
   DIR Cannabis
   DIR Opium
   DIR Drogenkonsum
   DIR Drogen
   DIR Schwerpunkt 1968
   DIR Schwerpunkt 1968
   DIR 68er
   DIR Polen
   DIR Schwerpunkt Gegenöffentlichkeit
   DIR Bewegung 2. Juni
   DIR Anarchismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Dieter Kunzelmann ist tot: Diesmal wirklich
       
       Er war linksradikaler Aktionskünstler der 68er-Revolte, liebte Effekt und
       Aufmerksamkeit. Nun ist Dieter Kunzelmann gestorben.
       
   DIR Ausstellung „1988“: Die Ruhe vor dem Sturm
       
       1988 gilt als ein Jahr des Stillstands, das keine große Rolle in den
       Geschichtsbüchern spielt. Verkehrt! Wie Fotos von Ann-Christine Jansson und
       Texten von Uwe Rada zeigen.
       
   DIR Die Medien nach Ohnesorg: Manipulation und Wahrheit
       
       Nach dem 2. Juni 1967 sahen West-Berliner Zeitungen Demonstranten als „rote
       SA“. Die Studenten forderten Gegenöffentlichkeit. Ein Rückblick.
       
   DIR Letztes Geleit für Bommi Baumann: Immer in der ersten Reihe
       
       Der Haschrebell wurde am Freitag beerdigt. Obwohl er nur zwei Jahre lang
       Aktivist der Bewegung 2. Juni war, wurde er immer darauf reduziert.
       
   DIR Nachruf auf Bommi Baumann: Wie alles endete
       
       Er rebellierte gegen Alt-Nazis, sah sich als Haschrebell und war Teil der
       „Bewegung 2. Juni“. Ein Anarchist, der später wie ein englischer Lord
       auftrat.