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       # taz.de -- Verfilmter Justizskandal: Die Geschichte des Gustl Mollath
       
       > Hans Steinbichler erzählt den Fall von Gustl Mollath aus dessen
       > Perspektive. Rechtsstaatliche Verfahren taugen eben für spannende Fikton.
       
   IMG Bild: Jan Josef Liefers gibt den „Wastl“ als rechtschaffenen, naiven Kerl
       
       Er ist ein rechtschaffener und hoffnungslos naiver Mann, dessen privates
       wie berufliches Glück perfekt scheinen. Er bemerkt nicht die Intrige, die
       gegen ihn gesponnen wird, von Menschen, die sich alle einen persönlichen
       Vorteil davon versprechen, den Unschuldigen zu denunzieren, auf dass er bis
       ans Ende seiner Tage weggesperrt werde.
       
       Das Gefängnis, in das sie ihn stecken, ist allerdings nicht das Château
       d’If, und er ist auch nicht der Graf von Monte Christo. Im Film heißt er
       Wastl Kronach – aber es ist unverkennbar die Leidensgeschichte des Gustl
       Mollath, die hier verfilmt wurde. So oder im Wesentlichen so hatte man das
       doch vor fünf Jahren in der Zeitung gelesen.
       
       Der begeisterte Oldtimer-Schrauber ist mit einer ehrgeizigen Bankerin
       verheiratet, die das Schwarzgeld ihrer vermögenden Privatkunden in die
       Schweiz schafft. Er sammelt Beweise – sie beschuldigt ihn, sie geschlagen
       zu haben. Ein Psychiater, der eigentlich sie therapiert, ihn nie getroffen
       hat, und ein Richter aus ihrem erweiterten Bekanntenkreis, beide befangen,
       besorgen den Rest. Das bekannteste Justizopfer der deutschen Geschichte,
       unser Capitaine Dreyfus, landet für sieben Jahre in der Psychiatrie.
       
       Bestimmt war Jan Josef Liefers („Tatort“: Münster) dem Regisseur Hans
       Steinbichler dankbar, endlich wieder eine überhaupt nicht lächerliche Rolle
       spielen zu dürfen. Keine ganz leichte Aufgabe: Tatsächlich gibt Liefers
       diesen Wastl Kronach als veritablen Sonderling, dessen Realitätsverlust
       über bloße Verschrobenheit hinausgeht. Ohne ihn dabei der Lächerlichkeit
       preiszugeben.
       
       ## Man hält ihn für einen Querulanten
       
       Da schreibt er etwa einen Brief an die Staatsanwaltschaft mit der
       Überschrift „ANZEIGE“ (er schreibt alles in Versalien), gefolgt von einer
       Aufzählung: „Steuerhinterziehung, Steuerumgehung, Geldwäsche, Anstiftung
       und Beihilfe dazu, Insidergeschäfte, Schwarzarbeit zu hunderten, ja zu
       tausenden Fällen, kriminelle Vereinigung, Körperverletzung, Verdunkelung,
       Falschanzeige, Nötigung.“ Man kennt solche Kandidaten bei jeder
       Staatsanwaltschaft: Leute, die den Finanzbeamten, der ihre Steuererklärung
       nicht durchgewinkt hat, anzeigen – wegen „Rechtsbeugung“ und allem anderen,
       was aus dem StGB (nicht) passt. Notorische Querulanten. Man nimmt sie nicht
       ernst – möglicherweise auch dann nicht, wenn sie einmal recht haben.
       
       Wie Wastl Kronach. Irgendwann lässt die ruchlose Finanzhexe (Katharina
       Schüttler) seinen wunderschönen Lamborghini Espada abholen. Forrest Gump …
       nein, Wastl/Liefers läuft dem Lastwagen hinterher, die Kamera hält in
       Großaufnahme auf sein Gesicht.
       
       Es gibt nur wenige Szenen ohne Liefers. Etwa wenn der Richter, nicht dass
       er dafür zuständig wäre, bei der Finanzverwaltung anruft, um dafür zu
       sorgen, dass der Steuerfahnder „K = Querulant“ auf der Akte notiert und
       diese ablegt. Der Richter trägt Rolex (bicolor), Siegelring und Zigarre im
       Mundwinkel – der Drogengangster, den Francis Fulton-Smith genau eine Woche
       zuvor auf dem gleichen Sendeplatz verkörpert hat, sah vergleichsweise
       seriös aus. Warum eigentlich stellt Wastl Kronach, der den Richter zuvor
       auf einem Foto mit seiner Frau gesehen hat, nie einen Befangenheitsantrag?
       Oder: Warum wird das nicht gezeigt?
       
       ## Konsequent aus der Opferperspektive
       
       2016 erst lief in den Kinos Hans Steinbichlers großartiger Film „Eine
       unerhörte Frau“ – mit der fabelhaften Rosalie Thomass als nicht für voll
       genommene Jungbäuerin, die so verzweifelt wie entschlossen gegen Familie,
       Ärzte und Institutionen ankämpft, für das Leben ihrer an einem nicht
       erkannten Tumor leidenden kleinen Tochter. Auch dem Film lag eine wahre
       Geschichte zugrunde. Die Parallelität der Konstellationen liegt auf der
       Hand.
       
       Indes: Der Fall Mollath war ein Justizskandal, der einen systemischen
       Mangel einer breiten Öffentlichkeit aufgedeckt hat. Zu kurz gesagt: Straf-
       und Strafprozessrecht stellen der Wegsperrung eines Menschen nicht
       unerhebliche Hindernisse in den Weg. Die alle nichts gelten, wenn einer von
       mehr oder auch mal weniger kompetenten Psychiatern als nicht schuldfähig,
       aber gemeingefährlich begutachtet und statt in ein Gefängnis gesperrt in
       einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt „untergebracht“ wird. (Eine
       Gesetzesänderung soll inzwischen Abhilfe geschaffen haben.)
       
       Diese Mechanismen begreifbar zu machen, das wäre die vorrangige Aufgabe
       eines Films – ob Dokumentar- oder Spielfilm – über den Fall Mollath. Aber
       das leistet Hans Steinbichler nicht. Kann er nicht leisten, wenn er so
       konsequent hochemotional nur aus der Opferperspektive erzählt.
       
       Amerikanische Serien wie jüngst „The Night Of“ und „American Crime Story:
       The People v. O. J. Simpson“ haben gezeigt, dass man die Tücken eines
       komplexen rechtsstaatlichen Verfahrens durchaus fiktional und spannend
       inszenieren kann. Ein bisschen mehr als 90 Minuten muss man aber wohl schon
       investieren. Im deutschen Fernsehen wurde das zuletzt 2001 von Hark Bohm
       und Sat.1 mit „Vera Brühne“ versucht.
       
       Es ist wirklich lange her.
       
       23 Feb 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Müller
       
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